Julie oder Die neue Heloise
Tugendhaftigkeit. Sie sehe jetzt ein, sagt sie, was es mit der allzu leicht gepriesenen Rechtschaffenheit der Gesinnung auf sich habe, die doch einen braven Mann, der verliebt ist, nicht abhält, wenn er kann, ein sittsames Mädchen zu verführen und unbedenklich eine ganze Familie zu entehren, um die Wuth eines Augenblick? zu befriedigen. Aber was nützt es, auf das Vergangene zurückzugehen? Es handelt sich darum, mit ewiger Nacht dieses verhaßte Geheimniß zu bedecken, die letzte Spur davon, wo möglich, zu verwischen und der Gnade des Himmels zu Hülfe zu kommen, die kein sichtbares Zeugniß davon zugelassen hat. Das Geheimniß ist auf den Kreis von sechs zuverlässigen Personen beschränkt. Die Ruhe Deren, die Ihr Alles war, das Leben einer in Verzweiflung gestürzten Mutter, die Ehre eines achtbaren Hauses, Ihre eigene Tugend, Alles das ist in Ihre Hand gelegt, zeichnet Alles Ihnen Ihre Pflicht vor: Sie können das Uebel wieder gut machen, das Sie gestiftet, können sich Juliens werth machen und Juliens Fehltritt rechtfertigen, indem Sie ihr entsagen; und wenn ich über Ihr Herz mich nicht getäuscht habe, so giebt es nichts Anderes als die Größe eines solchen Opfers, was der Größe der Liebe, die dasselbe heischt, entspräche. Auf die Achtung mich stützend, die ich für Ihre Gesinnung stets hegte und auf Alles, was dieser aus der zärtlichsten Vereinigung, die es je gab, an Kraft zuwachsen muß, habe ich in Ihrem Namen versprochen, was Sie nun erfüllen müssen: wagen Sie es, mich Lügen zu strafen, wenn ich zu hoch von Ihnen gedacht habe, oder seien Sie nun, was Sie sich schuldig sind. Es gilt, Ihre Geliebte der Liebe oder Ihre Liebe der Geliebten aufzuopfern und sich als den schwächsten oder als den tugendhaftesten der Menschen zu beweisen.
Die unglückliche Mutter hat an Sie schreiben wollen, sie hatte sogar angefangen. O Gott! was für Dolchstiche hätten Ihnen ihre bitteren Klagen versetzt! wie hätten ihre rührenden Vorwürfe Ihnen das Herz zerrissen! wie hätten ihre flehentlichen Bitten Sie mit Scham durchbohrt! Ich habe diesen zerschmetternden Brief, den Sie nicht ausgehalten hätten, entzweigerissen, ich habe dieses Grauenvollste nicht mitansehen können, daß sich eine Mutter demüthige vor dem Verführer ihrer Tochter. Das verdienen Sie wenigstens, daß man nicht solche Mittel gegen Sie anwende, welche geeignet sind, Ungeheuer zu schmelzen und einem fühlenden Menschen sicherlich das Herz zu brechen.
Wenn es sich dieses Mal um die erste Selbstüberwindung handelte, welche die Liebe von Ihnen fordert, so könnte ich an dem Erfolge zweifeln und ungewiß sein, wie viel Edelmuth man Ihnen zutrauen dürfe; aber das Opfer, welches Sie der Ehre Juliens gebracht haben, indem Sie von ihr fortgingen, bürgt mir dafür, daß Sie ein zweites ihrer Ruhe bringen werden, indem Sie einen vergeblichen Umgang abbrechen. Die ersten Schritte auf der Bahn der Tugend sind ja immer die schwersten, und Sie werden eine Ueberwindung, die Ihnen so sauer wurde, nicht um ihren Werth bringen wollen, indem Sie darauf bestehen, einen vergeblichen Briefwechsel fortzusetzen, der für Ihre Geliebte furchtbar gefährlich ist, keinem von beiden irgend eine Art von Entschädigung dafür bietet und nur die Qualen beider unnütz verlängert. Zweifeln Sie nicht daran, diese Julie, die Ihnen so theuer war, soll Dem, den sie so geliebt hat, nicht angehören; es ist umsonst, daß Sie sich Ihr Unglück verbergen. Sie verloren sie in dem Augenblicke, als Sie sich von ihr trennen mußten, oder vielmehr der Himmel hatte sie Ihnen schon eher genommen, als sie sich Ihnen hingab, denn ihr Vater versprach sie gleich bei seiner Rückkunft und Sie wissen nur zu gut, daß das Wort dieses unbeugsamen Mannes unwiderruflich ist. Wie Sie es auch anfangen mögen, das unüberwindliche Schicksal widersetzt sich Ihren Wünschen und Sie werden sie nie besitzen, Sie haben keine Wahl weiter, als entweder Julie in einen Abgrund von Unglück und Schmach zu reißen, oder in ihr den Gegenstand Ihrer Anbetung zu ehren und ihr anstatt des verlorenen Glückes, die Gemüthsruhe, die Vernunft, wenigstens die Sicherheit wiederzugeben, um die sie euer unseliges Bündniß gebracht hat.
Wie betrübt würden Sie sein, wie würden Sie sich in Schmerz verzehren, wenn Sie den jetzigen Zustand der armen Freundin sehen könnten und wie gebeugt sie ist von Scham und Reue! Wie ist ihr Glanz dahin! wie ist ihr Liebreiz geknickt! wie ist ihr ganzes sonst so herrliches Gemüth
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