Julie oder Die neue Heloise
fühle und fasse dich unaufhörlich an meinen Busen geschmiegt, wie du einen Augenblick warst. O Julie, welches Schicksal mir das tobende Gefühl, das ich nicht mehr bemeistern kann, ankündige, welche Behandlung deine Strenge mir bestimme, ich kann nicht mehr in dem Zustand leben, in welchem ich bin, und ich fühle, daß ich endlich zu deinen Füßen meinen Geist aushauchen muß .... oder in deinen Armen.
Fünfzehnter Brief.
Von Julie.
Es ist von Wichtigkeit, mein Freund, daß wir uns für einige Zeit trennen, und dies wird die erste Probe von dem Gehorsam sein, den Sie mir gelobt haben. Wenn ich ihn bei dieser Gelegenheit in Anspruch nehme, glauben Sie, daß ich dazu sehr starke Gründe habe; sie müssen es sein, das wissen Sie nur zu gut, wenn ich mich dazu entschließen soll: was Sie betrifft, so brauchen Sie keinen anderen als meinen Willen.
Sie haben schon lange eine Reise nach dem Wallis zu machen. Ich wünschte, daß Sie sie jetzt anträten, bevor die Kälte kommt. Der Herbst ist zwar hier noch recht angenehm, aber Sie sehen, daß die Spitzt des
Dent-de-Jamant
[Berg im Waadtlande.]
schon weiß wird, und in sechs Wochen würde ich Sie die Reise in ein so rauhes Land nicht unternehmen lassen. Sehen Sie es zu machen, daß Sie gleich morgen abreisen können: Sie werden mir unter der Addresse schreiben, die ich Ihnen schicke, und werden mir von Sion aus die Ihrige aufgeben.
Sie haben mir über Ihre Verhältnisse nie etwas sagen wollen, aber Sie sind nicht zu Hause; ich weiß, daß Sie wenig Vermögen daheim haben und daß es durch Ihren hiesigen Aufenthalt nur in Unordnung kommt, den Sie nicht fortsetzen würden, wenn ich nicht wäre. Ich kann also annehmen, daß sich ein Theil Ihrer Casse in der meinigen befindet,und ich schicke Ihnen eine kleine Abschlagszahlung in einer Börse, welche das beifolgende Kästchen enthält, das Sie nicht in Gegenwart des Ueberbringers eröffnen dürfen. Ich hüte mich wohl, den Schwierigkeiten entgegen zu laufen; ich schätze Sie zu sehr, als daß ich Sie für fähig halten sollte, es zu thun.
Ich verbiete Ihnen, nicht nur ohne meine Ordre zurückzukommen, sondern auch uns Adieu zu sagen. Sie können an meine Mutter oder an mich schreiben, einfach um uns zu benachrichtigen, daß Sie durch ein unvorhergesehenes Geschäft genöthigt sind, auf der Stelle abzureisen, und mir, wenn Sie wollen, einige Anweisung geben, was ich bis zu Ihrer Rückkunft lesen soll. Das alles müssen Sie ganz natürlich einrichten und ohne irgend etwas Geheimnißvolles durchblicken zu lassen. Adieu, mein Freund! Vergessen Sie nicht, daß Sie Juliens Herz und Ruhe mitnehmen.
Sechzehnter Brief.
Antwort.
Ich lese Ihren fürchterlichen Brief nochmals und zittere bei jeder Zeile. Ich werde indessen gehorchen, ich habe es gelobt, es ist meine Pflicht; ich werde gehorchen. Aber Sie wissen nicht, nein, Grausame, Sie werden es niemals wissen, was ein solches Opfer meinem Herzen kostet. Ach! Sie hatten die Versuchung im Gebüsch nicht nöthig, um es mir fühlbar zu machen: diese raffinirte Grausamkeit hätte sich Ihr fühlloses Herz ersparen können, und ich kann Sie wenigstens dreist herausfordern, mich nun noch unglücklicher zu machen, wenn Sie können.
Sie erhalten Ihr Kästchen uneröffnet zurück. Es ist zu viel, Beschimpfung zur Grausamkeit hinzuzufügen; wenn ich Sie zur Herrin meines Schicksals gemacht habe, so habe ich Ihnen doch nicht über meine Ehre Macht gegeben. Diese ist ein geheiligtes Pfand (das einzige, leider! das mir bleibt), welches ich bis an das Ende meines Lebens keinem Andern anvertrauen werde als mir selbst.
Siebzehnter Brief.
Gegenantwort.
Ihr Brief dauert mich; es ist das erste Mal, daß Sie ohne allen Verstand geschrieben haben.
Ich kränke also Ihre Ehre, für die ich tausend Mal mein Leben geben würde? Ich kränke also deine Ehre, Undankbarer, der du mich bereit gesehen hast, dir die meinige zu opfern? Wo ist sie denn diese Ehre, die ich kränke? Sage mir's doch, niedrige Seele, Herz ohne Zartgefühl! Ach! wie bist du verächtlich, wenn du nur eine Ehre hast, von der Julie nichts weiß! Wie? Die, welche ihr Schicksal theilen wollen, sollten nicht ihr Gut zu theilen wagen, und Der, welcher Metier davon macht, mein zu sein, findet sich beschimpft durch meine Gaben? Und seit wann ist es eine Gemeinheit, von Dem etwas anzunehmen, den man liebt? Seit wann entehrt das, was das Herz giebt, das Herz, welches es annimmt? Aber man verachtet einen Menschen, der von einem
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