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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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hat, die Vernunft ihr nicht nachkommen kann und oft sie ganz laufen läßt. Haben Sie denn gedacht, als Sie in Sion ankamen, daß ein Courier nur eben für Sie bereit stünde, um mit Ihrem Briefe abzugehen, damit ich diesen Brief gleich bei seiner Ankunft erhielte, und daß sich für meine Antwort die Gelegenheit nicht weniger günstig darbieten würde? Es geht nicht so, mein allerliebster Freund. Ihre beiden Briefe sind mir gleichzeitig zugekommen, weil der Courier, der nur einmal die Woche geht, erst mit dem zweiten abging. Die Austheilung der Briefe erfordert einige Zeit; mein Commissionair braucht Zeit, um mir den meinigen heimlich zuzustellen, und der Courier geht von hier nicht sogleich am Tage nach seiner Ankunft wieder ab. Also, richtig gerechnet, sind acht Tage nöthig, wenn der Abgang des Couriers wohl in Acht genommen wird, um Antwort von einander zu erhalten; ich setze Ihnen dies auseinander, um Ihre lebhafte Ungeduld ein für alle Male zu beschwichtigen. Während Sie gegen das Schicksal und meine Nachlässigkeit declamiren, sehen Sie, ziehe ich genaue Erkundigung ein über Alles, was unseren Briefwechsel sicher stellen und Ihre Besorgnisse zur Ruhe bringen kann. Ich überlasse Ihnen, zu entscheiden, auf welcher Seite die liebreichste Fürsorge ist.
    Reden wir nicht mehr von Leiden, mein lieber Freund! Ach, ehren und theilen Sie vielmehr die Freude, welche ich empfinde, nach acht Monaten Abwesenheit den besten Vater wieder zu sehen. Er kam Donnerstag Abend an, und ich habe seit diesem glücklichen Augenblick nur an ihn
[Das Vorangehende beweist, daß sie lügt.]
gedacht. O du, den ich nächst den Urhebern meiner Tage am meisten auf der Welt liebe, warum betrübst du mit deinen Briefen, deinen Klagen meine Seele, und störst die ersten Freuden der Wiedervereinigung einer Familie? Du möchtest, daß sich mein Herz ohne Unterlaß nur mit dir beschäftigte; aber sage mir, könnte das deinige eine unnatürliche Tochter lieben, die über ihre Liebesglut die Rechte des Blutes vergäße und die die Klagen ihres Geliebten für die Liebkosungeneines Vaters unempfindlich machten? Nein, mein würdiger Freund, vergifte nicht durch ungerechte Vorwürfe die unschuldige Freude, die mir ein so süßes Gefühl einflößt. Du, dessen Seele so zärtlich und so fein fühlt, begreifst du nicht, welcher Zauber darin liegt, in dieser reinen, heiligen Umarmung zu fühlen, wie dascVaterherz freudig an der Tochter schlägt? Ach! glaubst du, daß in solchem Augenblick das Herz sich theilen könne, ohne der Natur etwas zu vergeben?
    Sol che son figlia io mi rammento adesso.
[“Als Tochter fühl' ich mich und nur als Tochter.“]
Denken Sie indessen nicht, daß ich Sie vergesse. Hat man je vergessen, was man einmal geliebt hat? Nein, auch die lebhaftesten Eindrücke, denen man sich einige Augenblicke überläßt, verwischen deshalb nicht die anderen. Nicht ohne Leid habe ich Sie abreisen sehen, nicht ohne Freude würde ich Sie wiederkommen sehen. Aber .... gedulden Sie sich, wie ich mich gedulde, weil es sein muß, und fragen Sie nicht weiter. Sein Sie überzeugt, daß ich Sie so bald als irgend möglich zurückrufen werde, und bedenken Sie, daß, wer am lautesten über die Trennung klagt, nicht immer Der ist, welcher am meisten leidet.
     
Einundzwanzigster Brief.
An Julie.
    Was habe ich ausgestanden, als ich ihn in Empfang nahm, diesen heiß ersehnten Brief! Ich erwartete den Courier auf der Post. Kaum ist das Packet geöffnet, nenne ich meinen Namen, werde dringend; man sagt mir: es ist ein Brief da, ich zittere vor Freuden, ich fordere ihn, von tödtlicher Ungeduld getrieben; endlich erhalte ich ihn. Julie, ich sehe die Züge deiner angebeteten Hand! Die meinige zittert, indem ich sie ausstrecke, um dies kostbare Pfand zu empfangen. Ich hätte sie tausendmal küssen mögen, diese gebenedeiten Schriftzüge: o Furchtsamkeit einer schüchternen Liebe! ich habe nicht den Muth, den Brief an meinen Mund zu führen, noch ihn vor Zeugen zu öffnen. Ich eile hinweg. Meine Knie zittern unter mir: meine wachsende Aufregung läßt mich kaum auf meinen Weg achten. Hinter der ersten Ecke öffne ich den Brief; ich durchfliege ihn, ich verschlinge ihn; und kaum bin ich bei den Zeilen, wo du so schön die Freude deines Herzens bei der Umarmung deines verehrungswürdigen Vaters schilderst, so zergieße ich in Thränen; man sieht mich an; ich schlüpfe in einen Baumgang, um den Beobachtern zu entrinnen: dort theile ich deine Rührung; ich umarme

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