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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Tugenden als ein Gemälde tugendhafter Menschen, noch andere Regeln, um gut schreiben zu lernen, als wohl geschriebene Bücher.
    Wundern Sie sich daher nicht, daß ich Manches von dem bei Seite lasse, was Sie früher lasen; ich bin überzeugt, daß man weniger lesen muß, um mit Nutzen zu lesen, und ich sehe täglich mehr ein, daß Alles, was nicht zu der Seele spricht, nicht werth ist, Sie zu beschäftigen. Wir werden die Sprachen liegen lassen, mit Ausnahme der italienischen, die Sie verstehen und lieben. Wir werden die Elemente der Algebra und Geometrie aufgeben. Wir würden selbst die Physik bei Seite werfen, wenn die Ausdrücke, von denen Sie Gebrauch machen, mir den Muth dazu ließen. Wir werden auf die neuere Geschichte ganz verzichten, mit Ausnahme unserer vaterländischen; und auch diese kümmert uns nur, weil wir es in ihr mit einem freien und unverkünstelten Lande zuthun haben, in welchem man antike Menschen in der modernen Zeit findet; denn lassen Sie sich nicht von der Behauptung blenden, daß für jeden Menschen die Geschichte seines Landes das größte Interesse haben müsse. Dies ist nicht wahr, Es giebt Länder, deren Geschichte man gar nicht zu lesen vermag, wenn man nicht etwa ein Dummkopf oder ein Handelsmann ist. Die interessanteste Geschichte ist diejenige, in welcher man die besten sittlichen Muster, Charaktere jeder Art, kurz die meiste Belehrung findet. Die Leute werden Ihnen sagen, daß dieses bei uns ebenso gut der Fall sei als bei den Alten. Das ist nicht wahr. Schlagen Sie ihre Geschichte auf und bringen Sie sie zum Schweigen. Es giebt Völker ohne Physiognomie, die keine Maler brauchen; es giebt Regierungen ohne Charakter, die keine Geschichtschreiber brauchen, und wo, wenn man weiß, welche Stelle ein Mensch bekleidet, sich mit Gewißheit Alles voraussagen läßt, was er thun wird, Sie werden Ihnen sagen, daß es uns nur an guten Geschichtschreibern fehle; aber fragen Sie doch, woher das komme. Es ist nicht wahr. Gebe man nur Stoff zu guter Geschichtschreibung, und die guten Geschichtschreiber werden sich schon finden. Endlich werden sie Ihnen sagen, daß die Menschen aller Zeiten einander gleichen, daß sie die nämlichen Tugenden und die nämlichen Laster haben, daß man die Alten nur bewundere, weil sie alt sind. Das ist ebenfalls nicht wahr; denn man that ehedem große Dinge mit kleinen Mitteln und heutiges Tages thut man gerade das Gegentheil. Die Alten waren Zeitgenossen ihrer Geschichtschreiber und haben doch gemacht, daß wir diese bewundern. Gewiß, wenn die Nachwelt je die unsrigen bewundert, so wird das nicht unsere Schuld sein.
    Ich habe aus Rücksicht auf Ihre unzertrennliche Cousine einige leichte Literatur mit aufgenommen, die ich Ihretwegen nicht aufgenommen hätte. Außer Petrarca, Tasso, Metastasio und den Meistern der französischen Schaubühne, habe ich ganz gegen den Brauch, den man bei Ihrem Geschlecht einzuhalten pflegt, weder Dichterwerken noch Liebesgeschichten eine Stelle eingeräumt. Was sollten wir über die Liebe in diesen Büchern lernen? Ach Julie, unser Herz sagt uns mehr als sie, und die nachgeahmte Sprache der Leidenschaft in den Büchern ist gar kalt für Den, der selbst in Leidenschaft ist. Ueberdies entnerven dergleichen Studien die Seele, verweichlichen sie und rauben ihr alle ihre Federkraft. Dagegen die wirkliche Liebe ist ein verzehrendes Feuer, das allen übrigen Empfindungen Wärme mittheilt und sie mit neuer Kraft belebt. Deswegen hat man gesagt, die Liebe mache Helden, Glücklich wäre Der zu preisen, dem das Schicksal diese Bahn eröffnete und der Julien zur Geliebten hätte!
     

Dreizehnter Brief.
Von Julie.
    Ich sagte es Ihnen wohl, daß wir glücklich sind; nichts beweist es mir besser, als die Unlust, welche mir die kleinste Veränderung der Lage verursacht. Wenn wir recht empfindliche Leiden hätten, würde uns dann eine Abwesenheit von zwei Tagen so viel thun? Ich sage: uns, denn ich weiß, daß mein Freund meine Ungeduld theilt; er theilt sie, weil ich sie empfinde, und er für sich empfindet sie auch; es ist nicht mehr nöthig, daß er mir dies noch erst sage.
    Wir sind erst seit gestern Abend auf dem Lande; es ist noch nicht die Stunde, da ich in der Stadt Sie sehen würde, und dennoch macht die Ortsveränderung, daß ich schon Ihre Abwesenheit unerträglicher finde. Wenn Sie mir nicht die Geometrie verboten hätten, so würde ich Ihnen sagen, daß meine Unruhe im zusammengesetzten Verhältnisse der Abstände von Zeit und Raum

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