Julie oder Die neue Heloise
Patagon
[Münze des Landes.]
habe anbringen können. In der That, wie sollte man zu Ausgaben kommen in einem Lande, wo die Herren für ihre Unkosten keine Wiedererstattung annehmen und die Diener nichts für ihre Mühwaltung und wo man keinen Bettler antrifft? Indessen ist das Geld in Hoch-Wallis sehr selten; eben deswegen sind die Bewohner in einer behaglichen Lage; denn die Lebensmittel sind in Ueberfluß vorhanden, ohne Abzugskanäle nach außen, ohne Verbrauch von Luxusartikeln im Innern und ohne daß deshalb der gebirgische Landmann minder fleißig sei, denn an seiner Arbeit hat er sein Vergnügen. Werden sie jemals zu mehr Geld gelangen, so werden sie unfehlbar ärmer werden. Sie sind klug genug, es einzusehen, und die Goldminen, die es im Lande giebt, dürfen nicht ausgebeutet werden.
Ich war anfänglich sehr überrascht von dem Gegensatze, welchen diese Gewohnheiten mit denen im Nieder-Wallis bilden, wo, auf dem Wege nach Italien, der Reisende täglich geschröpft wird; und ichkonnte mir nicht recht erklären, wie doch ein und dasselbe Volk zu so verschiedenartigen Sitten käme. Ein Walliser erklärte mir die Ursache. Unten im Thale, sagte er mir, sind die Fremden, welche durchreisen, Kaufleute und andere Solche, die nichts weiter im Auge haben als ihr Geschäft und ihren Gewinn. Es ist billig, daß sie uns einen Theil von ihrem Nutzen lassen, und wir behandeln sie, wie sie die Anderen behandeln. Aber hier, wohin keine Geschäfte die Fremden locken, können wir gewiß sein, daß nicht Eigennutz sie heraufführt; so nehmen wir sie auch uneigennützig auf. Es sind Gäste, die uns besuchen, weil sie uns gut sind, und wir begegnen ihnen mit Freundschaft.
Uebrigens, setzte er lächelnd hinzu, ist diese Gastfreundschaft nicht kostspielig; es fällt wenig Leuten ein, Gebrauch davon zu machen. Oh, ich glaube es, antwortete ich ihm. Was sollte man bei einem Volke, welches lebt, um zu leben, nicht um zu erwerben oder um zu glänzen? Ihr Glücklichen, und werth, es zu sein, ich glaube gern, daß man euch in irgend einer Sache gleichen muß, um in eure Mitte zu kommen.
Was mir an ihrer Bewirthung am meisten gefiel, war, daß dadurch nicht die geringste Spur von Verlegenheit und Zwang weder auf der einen noch der andern Seite herbeigeführt wurde. Sie lebten in ihrem Hause, als ob ich nicht da gewesen wäre, und es kam nur auf mich an, es so darin zu haben, als ob ich allein da wäre. Sie wissen nichts von der unbequemen Eitelkeit, den Fremden die Honneurs zu machen, als ob man ihnen die Gegenwart eines Gebieters fühlbar machen wollte, von welchem man wenigstens hierin abhängt. Wenn ich nichts sagte, nahmen sie an, daß ich mit nach ihrer Art leben wollte; ich brauchte nur ein Wort zu sagen, um nach meiner eigenen leben zu können, ohne je von ihrer Seite die geringste Spur von Widerstand oder Erstaunen zu erfahren. Das einzige Compliment, das sie mir machten, als sie hörten, daß ich Schweizer wäre, bestand darin, daß sie mir sagten, wir wären Brüder und ich sollte mich bei ihnen wie zu Hause betrachten. Dann kümmerten sie sich weiter nicht um das, was ich that; denn es fiel ihnen gar nicht ein, daß ich in die Aufrichtigkeit ihrer Anerbietungen der geringsten Zweifel setzen oder daß ich das mindeste Bedenken haben könnte, Gebrauch davon zu machen. Mit derselben Einfachheit benehmen sie sich unter einander selbst; die Kinder, welche in das Alter der Vernunft getreten sind, stehen ihren Vätern gleich; die Knechte setzen sich mit ihrer Herrschaft zu Tische, die nämliche Freiheit herrscht in der Gemeinde wie in den Häusern und die Familie ist das Bild des Staates.
Das Einzige, worin ich nicht meiner Freiheit genoß, war die ungemeine Länge der Mahlzeiten. Ich brauchte mich freilich nicht mit zu Tische zu setzen; saß ich aber einmal, so mußte ich schon einen Theil des Tages aushalten und auch danach trinken. Wie sollte man denken, daß ein Mann und ein Schweizer kein Freund vom Trinken wäre? In der That, ich gestehe, daß mir ein guter Wein eine herrliche Sache scheint, und daß ich mich gar nicht ungern durch ihn erheitere, nur muß ich nicht dazu gezwungen werden. Ich habe immer bemerkt, daß die falschen Menschen mäßig sind, und große Zurückhaltung bei Tische verräth ziemlich häufig einen verstellten Charakter und Doppelherzigkeit. Ein offener Mann hat weniger Scheu vor der überfließenden Redseligkeit, den traulichen Ergießungen, welche der Betrunkenheit vorangehen; man muß aber auch
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