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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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hohen Bergen, wo die Luft rein und dünn ist, mit größerer Leichtigkeit athmet, mehr Federkraft im Körper, mehr Heiterkeit im Geiste spürt; das Lustgefühl ist dort weniger hitzig, die Leidenschaften sind gemäßigter. Die Gedanken nehmen etwas Großes, Erhabenes an, wie es den Gegenständen entspricht, die uns vor Augen liegen, eine gewisse selige Ruhe, worin nichts Brennendes und Sinnliches ist. Es scheint, als ob man, sich erhebend über die Wohnstätten der Sterblichen, alle niederen, irdischen Gefühle zurückließe, als ob die Seele, je mehr man sich der ätherischen Region nähert, etwas von deren unwandelbarer Reinheit annähme. Man fühlt sich ernst gestimmt ohne Wehmuth, friedvoll ohne Schlaffheit, froh des Daseins und des Denkens; jede zu lebhafte Begierde dämpft sich ab, verliert den scharfen Stachel, der sie schmerzhaft macht, und läßt im Herzen nichts als eine leichte sanfte Erregung; und so bewirkt ein glückliches Klima, daß zur Glückseligkeit des Menschen die Leidenschaften dienen, welche ihm anderwärts zur Marter werden. Ich glaube nicht, daß irgend eine heftige Gemüthsbewegung, irgendein krankhafter Zustand, der aus dem Magen stammt, gegen einen längern Aufenthalt in solchen Gegenden Stich halten könnte, und ich wundere mich, daß nicht Luftbäder in heilsamer, wohlthätiger Bergluft zu einem Hauptmittel gegen leibliche und geistige Leiden gemacht werden:
Qui non palazzi, non teatro o loggia;
    Ma 'n lor vice un abete, un faggio, un pino
    Trà l' erba verde e 'l bel monte vicino
    Levan di terra al ciel nostr' inteletto.

    [Nicht sind's Theater, Hallen und Paläste,
    Nein, etwas Eichen, Buchen oder Fichten,
    Die zwischen Wiesengrün und Berggelände
    Den Geist vom Staub empor zum Himmel richten.
Petrarca.]
    Nehmen Sie alle die Eindrücke zusammen, welche ich geschildert habe, und Sie werden sich einigermaßen eine Vorstellung machen von dem köstlichen Zustande, in welchem ich mich befand. Denken Sie sich diese tausend Wunder von Größe, Schönheit, mannigfaltiger Pracht; das Vergnügen, sich von lauter ganz neuen Gegenständen umringt zu sehen, von seltenen Vögeln, wunderlich geformten, unbekannten Pflanzen, gewissermaßen eine andere Natur zu schauen und sich in einer neuen Welt zu befinden. Das alles stellt ein unbeschreibliches Gemisch vor Augen, dessen Reiz noch erhöht wird durch die Reinheit der Luft, welche die Farben lebhafter macht, die Formen schärfer hervorhebt, alle Gesichtspunkte näher bringt, die Entfernungen scheinen geringer als auf der Ebene, wo die Dicke der Luft das Land mit einem Schleier bedeckt, der Horizont bietet den Augen mehr Gegenstände dar, als er fassen zu können scheint: kurz, das Schauspiel hat etwas Zauberisches, Uebernatürliches, was den Geist und die Sinne hinreißt; man vergißt Alles, man vergißt sich selbst, man weiß nicht mehr, wo man ist.
    Ich würde die ganze Zeit meiner Reise blos in dem Entzücken über die herrliche Landschaft hingebracht haben, wenn mich nicht der Umgang mit den dortigen Bewohnern in ein noch süßeres Entzückenversetzt hätte. Sie werden in meinem Berichte eine leichte Skizze von ihren Sitten, von ihrer Einfalt, von der gleichmäßigen Stimmung ihrer Seelen und von der friedlichen Ruhe finden, worin sie glücklich sind, mehr weil frei von Schmerzen, als vieler Genüsse wegen. Aber was ich Ihnen nicht schildern konnte, und was man sich gar nicht vorstellen kann, ist ihre uneigennützige Menschenfreundlichkeit und der gastliche Eifer, mit dem sie jedem Fremden entgegenkommen, den Zufall oder Neugierde zu ihnen führt. Ich hatte davon die überraschendsten Beweise, ich, den Niemand kannte, und der ich mich nur mit Hülfe eines Führers zurecht finden konnte. Wenn ich Abends in ein Dörfchen kam, so boten mir Alle mit so großer Beflissenheit ihre Häuser an, daß ich in Verlegenheit war, welches ich wählen sollte; und der, welcher endlich den Vorzug erhielt, schien dadurch so erfreut, daß ich hinter dieser Dienstfertigkeit das erste Mal Habgier suchte. Aber wie erstaunt war ich, als mein Wirth, bei dem ich mich beinahe wie in einem Gasthof benommen hatte, am anderen Morgen keine Bezahlung annehmen wollte, und sogar böse wurde, daß ich sie ihm anbot; und ebenso fand ich es überall. Es war also der lautere gastliche Sinn, den man sonst gewöhnlich lau genug findet, welchen ich seiner Lebhaftigkeit wegen für Gewinnsucht gehalten hatte. Ihre Uneigennützigkeit war so vollkommen, daß ich auf der ganzen Reise keinen

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