Julie oder Die neue Heloise
Rechtschaffenheit, also auch die Ehe in ihrer Heiligkeit macht die Liebe zu einem Schein. Das Herz, das dies anerkennt, erkennt darin nichts Anderes an, als seine eigene unbeschränkte Macht, Alles zu thun und zu bestimmen, was ihm gefällt. Alles zur Wahrheit und zum Schein und auch wieder den Schein zu einem Schein zu machen.
Sogar auch diese Macht des Herzens wird dem Herzen zu einem bloßen Schein. Lauretta hat sich aus der tiefsten Schmach zur Tugend erhoben, sie hat das schwerste Opfer gebracht: das Herz hat sie gerettet. Muß nicht das Herz sie vollständig absolviren? Julien drängt es, Lauretta wirklich als ebenbürtig anzusehen. „Sie ist gefühlvoll und tugendhaft, was braucht sie mehr, um uns ähnlich zu sein?" Aber sospricht nur Juliens Verstand; ihr Herz sagt Nein dazu. Und Clara geräth fast außer sich vor Zorn. Sie achtet Laurerta, stellt sie hoch, bewundert ihren Heroismus; aber sie in Gesellschaft achtbarer Frauen aufnehmen? Nimmermehr! dawider empören sich die „natürlichen Gefühle"; mit der „Verworfenheit", wenn diese auch überwunden (der ewige Makel bleibt zurück), ist kein Umgang verstattet. Also das Herz hat nicht die Macht, von der wirklichen, thatsächlich vor der Welt bewiesenen Schande zu absolviren, sondern nur von der eingebildeten oder innerlichen Schande. Die Macht des Herzens ist ein Schein.
So wird der Schein, vor dem das Herz sich retten wollte, indem es sich aus der Welt der Wirklichkeit, die ihm für Schein galt, in seine eigene Welt zurückzog, wiederum zu einer Macht. Der Schein gilt, und ist berechtigt. Das Mädchen muß aus Anstand in der größten Aufregung sich kalt stellen, mit zerrissener Seele eine lachende Miene annehmen, immer anders reden als es fühlt und denkt, falsch sein aus Pflicht, lügen aus Sittsamkeit. Julie muß, um die Ruhe des Hauses nicht in Gefahr zu bringen, um einem braven Manne nicht unnütz eine Trübsal zu bereiten, vor ihrem Gatten das Geheimniß ihrer früheren Liebe verschließen Die Frau überhaupt muß auch den Schein selbst wahren; sie ist schon tadelnswerth, wenn sie Anlaß giebt, daß ihr Mann sie, auch unverdient, tadle. Julie muß den Schein annehmen, als wolle sie von ihrer Autorität über Saint-Preux keinen Gebrauch machen. Lord Eduard darf das ehemalige Freudenmädchen nicht zu seiner Gattin wählen: es wäre das eine Profanation der Schicklichkeit; die Schicklichkeit, die sonst für bloßen Schein gilt, ist plötzlich zur Wahrheit geworden. Also der Schein ist aufgehoben, der Schein ist nicht mehr Schein, ist wirkliche Macht.
Und noch ist das Spiel nicht zu Ende. Auch die Aufhebung des Scheines ist endlich nur scheinbar. Der wieder zur Macht gewordene Schein erweist sich als eben gar kein Schein, sondern als die unüberwindliche Wirklichkeit. Es ist nur Schein, wenn die Liebe Saint-Preux' zu Julien für eine nur als Schein ihn beherrschende Macht erklärt worden; gerade in seiner Einbildung, wenn er von Julien getrennt ist, fühlt er, daß er sie noch immer wirklich liebt: „Die vorübergehende Ruhe meiner Seele ist nur ein Waffenstillstand. In Ihrer Gegenwart erhebe ich mich bis zu Ihrer Tugend; sobald ich von Ihnen bin, falle ich in mich selbst zurück." Und auch Julie fällt auf ihrem Todtenbette noch in sich selbst zurück.
So kommt die Wirklichkeit zuletzt dennoch zu ihrem Rechte. Es ist die Wirklichkeit, die in letzter Instanz entscheidet, die in die Traumwelt des Herzens gewaltsam überall hineingreift, unter deren Einfluß selbst die idealen ewigen Güter stehen. Erst durch die wirkliche That ist die Pflicht wirklich verletzt. In Gedanken, in der Vorstellung darf Saint-Preux Julien lieben; es ist kein Unrecht, wenn er es ihr nur nicht zu erkennen giebt, wenn er sich nur keine Indiscretion zu Schulden kommen läßt. Lord Bomston hat keinen Ehebruch begangen, wenn er sein Verhältniß mit der Marquise als ein platonisches unterhält: sein Gewissen ist beruhigt, nur der Beischlaf gilt ihm für einen Ehebruch. Lauretta's Herz ist rein. Es giebt keinen ewigen Schandfleck, sagt sie sich selbst, als ein verderbtes Herz zu haben. Aber was hilft das? Ihr entehrendes Gewerbe, diese kalte, herzlose, unerbittliche Wirklichkeit hat sie gerichtet. „Ich werde ewig verachtet sein, ohne die Verachtung zu verdienen." Und auch die empfindsamen Herzen können nicht umhin, diese Prophezeihung wahr zu machen. Auch Wolmar versichert, er würde Saint-Preux nicht wieder angesehen haben, wenn er die entehrende Verbindung des Lords mit
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