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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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dem Falle unverbindlich, wenn die Ablegung desselben Unrecht gewesen, und ebenso in dem Falle, wenn spätere Ereignisse das Halten desselben zu einem Unrecht machen. Saint-Preux hat gelobt, nie zu heiraten: Julie belehrt ihn, zur Sicherung der Keuschheit sei er schuldig, dies Gelübde zu brechen. Also das gegebene Wort, das Gelübde ist an sich nicht heilig. Die Heiligkeit des Wortes und der Treue ist ein Schein. Das Herz hat es alles Macht: es hat die Schlüssel seines Himmels, es kann heilig und unheilig sprechen.
    Das Herz macht sich selbst einen Schein vor. Saint-Preux bildet sich ein, er bringe der Tugend ein Opfer, indem er auf Julie verzichtet, und doch bringt er es nur seiner Liebe zu ihr. Die Gründe, welche ihn dazu bestimmen, sind nur solche, die ihm seine Liebe eingiebt. Julie weiß es, daß sie nicht der Pflicht ein Opfer bringt, wenn sie auf Saint-Preux verzichtet, sondern nur der Liebe zu ihren Eltern, aber dies erklärt sie auch ausdrücklich für verdienstlos. Wenn sie nicht glaubte, daß die Tugend schon die Macht über sie verloren habe, würde sie sich einbilden, der Tugend zu opfern.
    Das Herz macht sodann seine heiligen Güter ausdrücklich zu einem Schein, indem es sie listig gebraucht, sein Spiel mit ihnen treibt. Z. B. das Gelübde ist heilig, wenn sein Halten nicht zu einem Unrecht geworden. Julie hat nach dem Tode ihrer Mutter gelobt, nicht wieder zu tanzen. Sie tanzt nun zu Hause mit ihren Bedienten und Hausgenossen, und meint, das sei ja nicht getanzt, ihr Gelübde sei nicht gebrochen. — Julie respectirt den Begriff von Ehre nicht, den ihr Vater hat, wiewohl diese Edelmannsehre immer doch Ehre ist; gleichviel! sie speculirt auf die Ehrliebe ihres Vaters, um sich zur Ablehnung der ihr aufgedrungenen Heirat mit dem früher von ihr gegebenen Worte zu entschuldigen. Noch nicht genug: sie schützt ihr heiliges Wort vor, das sie, ohne von Saint-Pieux entbunden zu sein, nicht brechen könne, während doch schon die Forderung, daß Saint-Pieux sie entbinde, ein offenbarer Treubruch ist. Saint-Preux entbindet sie: eine Handlung der Ehre. Die Ehre verräth uns, ruft nun Julie aus. So spielt sie mit den heiligen Gütern. Nein, sagt ihr Saint-Preux, du hast die Ehre verrathen. Aber warum nicht? Hat nicht das Herz die Macht, alle Mächte, die es auf den Thron gehoben, auch wieder herunterzustoßen? Jedoch stürzen will es sie nicht; nur ihre Wirkung unschädlich machen: es spielt mit ihnen, es macht sie zu einem Schein.
    Ja, das Herz weiß, daß es seine Güter zu einem Scheine macht und auch mit diesem Scheine wieder treibt es sein Spiel. Die Aufrichtigkeit, die Offenheit wird für die vornehmste Tugend erklärt. DieLiebe fordere unbedingte Offenheit der Herzen, Heimlichkeit sei der erste Schritt zum Laster; Eine Moralvorschrift könne statt aller dienen, nämlich diese: sage und thue nichts, was nicht die ganze Welt hören und sehen könnte. Niemand predigt diese Offenheit eifriger als Wolmar; aber gerade er ist es, der Alles durch versteckte Künste zu leiten sucht. Aus Offenheit gesteht er denn gelegentlich diese Künste ein, und diese Offenheit ist wieder nur eine Kunst, um auf die Anderen zu wirken. Es wird gerühmt, daß auf die Bravheit der Dienstleute besonders die Unverstelltheit der Herrschaft von größtem Einfluß sei, und doch ist die ganze Behandlung der Dienstleute nichts Anderes als fortwährende moralische Ueberlistung,
    Zuletzt muß das Herz selbst es anerkennen, daß seine heiligen Güter nur Schein sind. Nicht nur von dem Bösen gesteht es dies, bekennt; z. B., daß die Versuchung nur Schein, nur Blendwerk sei, nur ein Spiel der eigenen Vorstellungen. Ist die Vorstellung als die Alles beherrschende Macht erkannt, so muß auch von dem Guten zugegeben werden, daß es Schein sei. So wird von der Liebe offen eingestanden, man könne keine Beständigkeit von ihr fordern, sie sei eine Täuschung der Vorstellungskraft. Die verklärte, ätherische, eigentlich heilige Liebe gilt dagegen für keinen Schein. Nun wird aber die Liebe an sich als eine himmlische „Bestimmung" zweier Wesen für einander angesehen. Daher sagt Saint-Preux mit Recht, eine Tugend, welche „den Beschluß des Himmels, der zwei Wesen für einander bestimmt hat," vernichten wolle, sei nur noch ein Wahnsinn. Also wird die tugendhafte Liebe zum Schein und die ursprüngliche, dieses „heilige Gefühl der Natur", zur Wahrheit. Ferner wird wiederholt erklärt, zur Ehe sei Liebe gar nicht erforderlich, sondern nur

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