Aleph
König meines eigenen Reiches
Nein! Bloß kein neues Ritual! Nicht schon wieder eine rituelle Anrufung! Bloß nicht wieder unsichtbare Kräfte bitten, dass sie sich in der sichtbaren Welt manifestieren! Was hat das mit der Welt zu tun, in der wir heute leben? Junge Leute schließen ihr Studium ab und finden keine Arbeit. Die Alten gehen in Rente, und das Geld reicht hinten und vorn nicht. Und diejenigen, die arbeiten, haben keine Zeit zum Träumen - sie rackern sich von früh bis spät ab, um ihre Familie zu ernähren, die Ausbildung der Kinder zu bezahlen, im ständigen Kampf mit der sogenannten »harten Realität«.
Noch nie war die Welt so in Aufruhr wie heute: religiöse Kriege, Völkermord, fehlende Achtung vor unserem Planeten, Wirtschaftskrisen, Depression, Armut. Und für all diese Probleme - und für die eigenen - erwarten alle schnelle Lösungen. Wenn es darum geht, wenigstens ein paar der Probleme, die die Welt oder das eigene Leben betreffen, zu lösen, wollen alle gleich Ergebnisse sehen. Aber die Zukunft sieht immer düsterer aus.
Und ausgerechnet jetzt soll ich mich mit einer spirituellen Tradition auseinandersetzen, deren Ursprung in einer fernen Vergangenheit, weit weg von den Herausforderungen unserer Zeit zu finden ist?
Mit J., den ich meinen Meister nenne, obwohl ich an diesem Status langsam zu zweifeln beginne, gehe ich auf die heilige Eiche zu, die seit mehr als fünfhundert Jahren unbeeindruckt Zeuge der menschlichen Leiden ist; einzig bestrebt, im Herbst ihre Blätter abzuwerfen und sie im Frühjahr wieder wachsen zu lassen.
Ich mag nicht länger über mein Verhältnis zu J. schreiben, der mich in jene spirituelle Tradition eingeführt hat. Ich besitze zig Tagebücher voller Notizen zu unseren Gesprächen, die ich nie wieder lesen werde. Seit ich ihm 1982 in Amsterdam zum ersten Mal begegnet bin, habe ich etliche hundert Male verlernt zu leben und es wieder neu erlernt. Wenn mich J. etwas Neues lehrt, glaube ich jedes Mal, dass dies möglicherweise der letzte Schritt ist, um den Gipfel des Berges zu erreichen, die Note, die der Schlüssel zu einer ganzen Symphonie ist, das Wort, das ein ganzes Buch zusammenfasst. Die daraus folgende Euphorie klingt jedoch nach und nach ab. Einiges bleibt für immer, doch die meisten Übungen, Rituale, Lehren verschwinden irgendwann in einem schwarzen Loch. Jedenfalls kommt es mir so vor.
***
Der Boden ist nass, meine Turnschuhe, erst vor zwei Tagen gründlich gereinigt, werden gleich wieder voller Schlamm sein, egal, wie sehr ich mich in Acht nehme. Meine Suche nach Wissen, innerem Frieden und der Bewusstheit für die Wirklichkeit - die sichtbare wie unsichtbare - ist bereits zur Routine geworden und bringt mich nicht mehr weiter. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren habe ich mich der Magie verschrieben; es waren wichtige Jahre für mich, in denen ich viele Wege eingeschlagen habe. Zeitweise bewegte ich mich am Rande des Abgrunds, strauchelte, stürzte, war nahe daran aufzugeben und fing wieder von vorn an. Mit neunundfünfzig Jahren, so hatte ich mir immer vorgestellt, würde ich längst dem Paradies und jenem inneren Frieden nahe sein, wie ich ihn im Lächeln buddhistischer Mönche zu erkennen glaubte.
Tatsächlich scheine ich davon weiter entfernt zu sein denn je. Ich bin mit mir nicht im Reinen. Immer wieder hadere ich mit inneren Konflikten, manchmal über Monate hinweg. Wenn ich es schaffe, in eine magische Realität einzutauchen, dann gerade lange genug, um zu spüren, dass diese andere Welt existiert, und um frustriert zu sein, weil es mir nicht gelingt, alles in mir aufzunehmen, was ich dort erfahre.
Wir sind beim Baum angekommen.
Wenn das Ritual beendet ist, werde ich ernsthaft mit J. reden. Wir legen beide unsere Hände an den Stamm der heiligen Eiche.
***
J. spricht ein Sufi-Gebet:
»Allmächtiger Gott, wenn ich den Stimmen der Tiere, dem Rascheln des Laubs, dem Murmeln des Wassers, dem Zwitschern der Vögel, dem Brausen des Windes oder dem Grollen des Donners lausche, dann höre ich Dich in allem; ich spüre, dass Du die höchste Macht, die Allwissenheit, die höchste Weisheit, die höchste Gerechtigkeit bist.
Allmächtiger Gott, ich erkenne Dich in den Prüfungen, die ich durchstehe. Möge Deine Freude auch meine Freude sein. Gestatte, dass Deine Zufriedenheit auch meine Zufriedenheit sei. Lass mich Deine Freude sein, jene Freude, die ein Vater an seinem Kind hat. Und lass mich auch dann ruhig und entschlossen
Weitere Kostenlose Bücher