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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Hand pocht, dieses zärtliche Herz! Julie! meine liebste, liebste Julie! ich sehe dich, ich fühle dich überall, ich athme dich mit der Luft, die du geathmet hast; du durchdringst mein ganzes Wesen. Wie ist dein Aufenthalt brennend und schmerzlich für mich! er ist fürchterlich für meine Ungeduld. O, komm, fliege, oder ich bin verloren!
    Welches Glück, daß ich Tinte und Papier fand! Ich drücke aus, was ich empfinde, um das Uebermaß des Gefühls zu dämpfen, ich täusche meine Entzückungen, indem ich sie beschreibe.
    Ich glaube Geräusch zu hören: wäre es dein barbarischer Vater? Ich glaube nicht feige zu sein .... aber in diesem Augenblick wäre mir der Tod schrecklich! meine Verzweiflung würde dem Feuer gleichen, das mich verzehrt. Himmel, um eine Stunde Leben flehe ich noch und ich gebe den Rest meines Daseins deiner Strenge preis. O Sehnsucht! o Furcht! o grausames Herzpochen! .... die Thüre geht ... es kommt Jemand ... sie ist's, sie ist's! ich lausche, ich habe sie gesehen, ich höre die Thüre schließen. Herz, schwaches Herz, erliege nicht; ach, suche Kraft, die Wonne zu ertragen, die dich zermalmt.
     
Fünfundfünfzigster Brief.
An Julie.
    O, laß uns sterben, meine süße Freundin! laß uns sterben, Geliebte meines Herzens! Was hinfort beginnen mit einer unschmackhaften Jugend, deren Wonnen wir ganz erschöpft haben? Erkläre mir, wenn du kannst, was ich in dieser unbegreiflichen Nacht gefühlt habe; gieb mir den Begriff eines so verfließenden Lebens, oder laß mich aus demjenigen scheiden, welches nichts mehr von dem hat, was ich mit dir erfahren habe. Ich hatte die Freude geschmeckt und glaubte das Glück zu begreifen. Ach, ich hatte nur einen leeren Traum empfunden, und stellte mir nur ein kindisches Glück vor. Meine Sinne führten meine grobe Seele irre; ich suchte nur in ihnen das höchste Glück, und ich habe gefunden, daß ihre erschöpften Freuden erst der Anfang der meinigen waren. O einziges Meisterstück der Natur! göttliche Julie! köstlicher Besitz, für welchen alle Entzückungen der heißesten Liebe kaum genug sind! nein, es sind nicht diese Entzückungen, deren Entschwinden ich am meisten beklage, o nein, entziehe sie mir, wenn es sein muß, diese berauschenden Gunstbezeigungen, für welche ich tausend Leben hingeben würde; aber gieb mir alles das wieder, was nicht sie ist, was sie tausendmal in Schatten stellte. Gieb mir wieder diese enge Vereinigung der Seelen, die du mir verkündigt hattest, die du mir so ganz zu schmecken gabst; gieb mir wieder diese süße Ermattung, deren Frist die Ergießungen unserer Herzen ausfüllen; gieb mir wieder diesen bezaubernden Schlummer, den ich an deinem Busen fand; gieb mir wieder dieses noch köstlichere Erwachen und diese abgebrochenen Seufzer, und diese süßen Thränen, und diese Küsse, die wir in wollüstigem Schmachten langsam einsogen, und dieses Stöhnen der Zärtlichkeit, bei welchem du an dein Herz dieses zur Vereinigung mit dir geschaffene Herz drücktest.
    Sage, Julie, die du nach deinem eigenen Fühlen das des Anderen so gut beurtheilen kannst, glaubst du, daß das, was ich zuvor fühlte, wirklich Liebe war? Meine Gefühle, zweifle nicht daran, sind seitdem verwandelt; sie haben etwas minder Ungestümes angenommen, aber etwas Süßeres, Zärtlicheres, Lieblicheres. Gedenkst du dieser ganzen Stunde, die wir damit hinbrachten, still von unserer Liebe zu sprechenund von dieser dunkeln, furchtbaren Zukunft, deren Gedanke uns die Gegenwart noch mehr zum Gefühle brachte, dieser, ach, zu kurzen Stunde, in der ein leichter Anflug von Schwermuth unser Gespräch so rührend machte? Ich war ruhig, und doch war ich bei dir; ich betete dich an und hatte keine Begierde; ich konnte mir gar kein anderes Glück denken, als so dein Gesicht an dem meinigen zu fühlen, deinen Athem auf meiner Wange und deinen Arm um meinen Hals, Welche Stille in allen meinen Sinnen! welche reine, dauernde Lust durch mein ganzes Wesen! In der Seele war der Zauber des Genusses, er wich nicht von ihr, er war ewig. Welch ein Abstich von der Raserei der Liebe zu diesem friedlichen Zustande! Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich ihn bei dir empfunden habe; und doch, denke, welche Verwandlung in mir vorgegangen, es ist von allen Stunden meines Lebens die, welche mir die liebste ist, die einzige, der ich ewige Dauer gewünscht hätte.
[Frauen, die ihr euch zu leicht hingebt, wollt ihr wissen, ob ihr geliebt seid? Erforschet eueren Geliebten, wenn ihn euere

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