Julie u Julia - 365 Tage, 524 Rezepte Und 1 Winzige Küche
eine Träne auf seine New York Post fiel, schnaubte er nur und blätterte weiter zu den Sportseiten.
Als ich - Jahre später, wie mir schien - aus der U-Bahn rauskam, rief ich aus einer Zelle Ecke Bay Ridge und Fourth Avenue Eric an.
»Hey, hast du was zum Abendessen gekauft?«
Eric machte ein Geräusch, als sauge er Luft durch die Zähne ein, wie immer, wenn er glaubt, jetzt gibt es Ärger. »Hätte ich das tun sollen?«
»Na ja, ich hab doch gesagt, bei mir kann es spät werden, wegen dem Arzttermin -«
»Stimmt, ja, Entschuldigung. Ich hab nur, ich hab nicht... Soll ich was bestellen, oder -«
»Lass nur. Ich bring schon was mit.«
»Aber ich sause sofort nach den Nachrichten los!«
Es war fast acht Uhr, da hatte in Bay Ridge nur noch das koreanische Deli Ecke Siebte und Dritte offen. Ich muss ein toller Anblick gewesen sein, wie ich in meinem verschwitzten Kostüm, mit zerlaufener Wimperntusche im Gesicht, in der Gemüseabteilung stand und vor mich hinstarrte wie ein Katatoniker. Mir fiel nichts ein, was ich essen wollte. Ich griff nach ein paar Kartoffeln, einem Bündel Lauch und einer Packung Butter. Ich war wie benommen und irgendwie willenlos, als befolgte ich die Einkaufsliste von jemand anderem. Ich zahlte, ging aus dem Laden und lief zur Bushaltestelle, verpasste aber den B69er. Um diese Zeit dauerte es mindestens eine halbe Stunde, bis wieder einer kam, also machte ich mich zu Fuß auf den Heimweg, zehn Querstraßen weit, in der Hand eine Plastiktüte mit einem starren, stachligen dunklen Lauchstrauß.
Erst fünfzehn Minuten später, als ich gerade an der Katholischen Knabenschule an der Shore Road vorbeiging, noch einen Block von unserem Haus entfernt, wurde mir klar, dass ich unbewusst genau die Zutaten für Julia Childs Potage Parmentier eingekauft hatte.
In meiner Kindheit erzählte Dad gern, wie er die fünfjährige Julie zusammengerollt auf dem Rücksitz seines kupferfarbenen Datsun ZX gefunden hatte, vertieft in ein zerknittertes altes Atlantic-Monthly -Heft. Er erzählte es allen Kollegen im Büro, den Freunden, mit denen meine Eltern ausgingen, und allen Familienmitgliedern, die nicht erzkonservativ waren und so was vermutlich ablehnten (das liberale Atlantic Monthly , meine ich, nicht die Z-Serie).
Er glaubte wohl, ich sei ausersehen, früh in die Schar der Hochbegabten einzutreten. Und da ich mich im Ballett und beim Spitzentanz furchtbar ungeschickt anstellte, beim Turnen immer als Letzte das Seil hochkam und mit meiner rotgeränderten Eulenbrille weder nach einem verlassenen kleinen Mädchen noch bezaubernd aussah, holte ich mir meine Streicheleinheiten, wo ich sie bekommen konnte. Die wenig anspruchsvolle Wahrheit lautete allerdings: Beim Lesen ging die Post ab.
Um meinen Ruf als Leseratte zu festigen, verstieg ich mich zu Tolstoi und Steinbeck, bevor ich sie verstand, aber insgeheim und in Wirklichkeit liebte ich die Schundliteratur. Die Drachenherrin von Pern , Flowers in the Attic, Ayla und der Clan des Bären . Dieses Zeug war sozusagen mein Playboy -Stapel unter der Matratze. Im Ferienlager wartete ich, bis die Betreuerin aus der Hütte war, dann stibitzte ich mir die V. C. Andrews, die sie hinter ihrer Tampaxschachtel versteckte. Von Mama holte ich mir Jean Auel und hatte sie schon zur Hälfte durchgelesen, bis sie es merkte, also konnte sie nur zusammenzucken und hoffen, es werde von erzieherischem Wert sein - aber nicht Das Tal der Pferde , Fräuleinchen!
Dann ging es richtig mit der Pubertät los, und das Lesen zum Spaß landete wie die alten Atlantic Monthlys auf dem Rücksitz. Es war vorbei mit der köstlichen, lasterhaften Ahnungslosigkeit, mit der ich diese Bücher gelesen hatte - denn, man höre und staune, der richtige Sex war längst nicht so aufregend, wie es das Lesen über Sex gewesen war. Heutzutage hat eine durchschnittliche vierzehnjährige Texanerin wahrscheinlich umfassende Kenntnisse über den sexuellen Einsatz einer gepiercten Zunge, aber ich bezweifle, dass sie dies mehr erregt als mich damals die Enthüllungen über das Geschlechtsleben der Neandertaler.
Aber wovon hat eine vierzehnjährige Texanerin nicht die allerleiseste Ahnung? Von französischer Küche.
Ein paar Wochen nach meinem 29. Geburtstag, im Frühling 2002, flog ich nach Texas, um meine Eltern zu besuchen. Eigentlich hatte mich Eric dazu überredet.
»Du musst hier raus«, sagte er. Die Küchenschublade, die zwei Wochen nach unserem Einzug kaputtgegangen und nie richtig repariert
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