Juliregen
hätte er vielleicht noch hingenommen, doch der Gedanke, auch deren Mutter und die Schwestern am Hals zu haben, jagte ihm Schauder über den Rücken. Er enthielt sich jedoch jeglichen Kommentars, betrachtete die bereits eingerichteten Zimmer und machte sich seine eigenen Gedanken. Faul waren Lore, Nathalia und sein Neffe Jürgen wahrlich nicht gewesen, und sie hatten aus den beschränken Möglichkeiten das Beste gemacht. Nun aber glitten Nehlens Überlegungen in eine andere Richtung, und er gab einen ärgerlichen Laut von sich.
»Was ist mit Ihnen, liebster Onkel?«, fragte Gademer sofort.
»Wegen unseres hastigen Ausflugs hierher habe ich etwas Wichtiges zu Hause vergessen.«
Leutnant Bukow schätzte die Zeit ab, die ihm bis zum Einbruch der Dunkelheit noch blieb, und deutete einen militärischen Gruß an. »Stehe bereit, um nach Nehlen zu reiten und es zu holen, liebster Oheim!«
»Das ist nichts, was man einfach mitnehmen kann.« Nehlen schüttelte den Kopf, denn er kannte den Leutnant mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass dieser seinen Gaul halb zuschanden reiten würde. »Es geht auch nicht, denn ebenso wie Edgar hast du dich den Damen Philippstein als Kavalier angeboten. Es wäre unhöflich von dir, ihnen deine Gesellschaft zu entziehen.«
»Damit ist es auch mir unmöglich, Ihnen diesen Gefallen zu erweisen, lieber Onkel«, erklärte Gademer sichtlich erleichtert.
»So ist es«, konstatierte Nehlen und sah Jürgen auffordernd an. »So bleibt die Sache wohl an dir hängen!«
»Was soll ich tun, Onkel?«
»Es geht um einen Hirsch in meinem Forst. Das Tier wurde mir als krank gemeldet und müsste dringend geschossen werden. Es kommt jeden Abend bei Dämmerung an den kleinen See. Du kannst den Hirsch nicht verkennen, denn seine linke Geweihstange ist nicht vollständig ausgebildet. Schieß das verkrüppelte Tier und bring es zum Gut. Hast du verstanden?«
»Ja, aber … ich …« Jürgen wollte sagen, dass er noch nie auf ein lebendes Wesen gezielt und es getötet hatte, doch die höhnischen Blicke seiner Vettern ließen diese Worte nicht über seine Lippen kommen. »Wenn es Ihr Wunsch ist, Onkel, werde ich umgehend aufbrechen.«
»Bis dieser Sonntagsreiter Nehlen erreicht, ist die Nacht hereingebrochen und der Hirsch längst wieder im Forst verschwunden«, spottete von Bukow.
Gademer hatte eine ähnlich bissige Bemerkung auf den Lippen, sagte sich jedoch, dass dieses Thema den Damen Philippstein nicht gefallen dürfte, und führte diese in den nächsten Raum, der gänzlich leer war.
Frau Rodegard sah sich um und musste lachen. »Ich bin ja gespannt, ob das Vermögen der Trettins ausreicht, dieses Haus je vollständig einrichten zu lassen. Man hört ja, Graf Fridolin besäße nicht einmal genug Geld, um die Schulden zu bezahlen, die noch auf dem Gut lasten.«
Lore sagte nichts dazu, schwor sich aber, alles zu tun, um Frau von Philippstein so bald wie möglich der Lüge zeihen zu können.
Jürgen achtete nicht auf das Geschwätz, sondern trat auf Lore zu und bat, sich verabschieden zu dürfen. »Verzeihen Sie, Frau Gräfin, aber ich kann mich dem Willen meines Onkels nicht entziehen!«
»Selbstverständlich gebe ich Ihnen Urlaub, bis Sie wieder in der Lage sind, uns zu helfen.« Da sie sich immer noch über Rodegard von Philippstein ärgerte, entging ihr der verzweifelte Unterton in der Stimme des jungen Mannes.
Nathalia aber bemerkte seinen inneren Aufruhr und dachte sich ihren Teil. Jürgen war weder ein strammer Reiter, noch hatte er sich bisher als Waidmann ausgezeichnet. Da Graf Nehlen dies ebenfalls wusste, ärgerte sie sich über den alten Herrn. Bei diesem Auftrag musste Jürgen zwangsläufig scheitern und würde hinterher dem Spott seiner Vettern und der beiden Damen Philippstein ausgeliefert sein.
Mit zusammengebissenen Zähnen sah sie zu, wie Jürgen aus dem Haus trat, seinen Wallach satteln ließ und sich recht kraftvoll auf ihn schwang. Obwohl er bereits um einiges besser ritt als zu Beginn ihrer Bekanntschaft, würde er sich schwertun, rechtzeitig nach Nehlen zu gelangen, um sich dort eine Jagdflinte geben zu lassen.
Während Lore ihre Gäste weiter durch das Herrenhaus führte und Rodegard von Philippstein im Geiste mindestens einmal pro Raum erwürgte, schweiften Nathalias Gedanken immer wieder ab. Sie sah Jürgen vor sich, der schneller über das Land ritt, als er eigentlich verantworten konnte, um eine Aufgabe zu erfüllen, für die er im Grunde vollkommen ungeeignet war.
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