Juliregen
Im Gegensatz zu ihm würden von Gademer und Leutnant Bukow auf jeden Fall rechtzeitig nach Nehlen kommen und den kranken Hirsch erlegen, ohne dabei mit der Wimper zu zucken.
Das Geräusch eines heranrollenden Wagens unterbrach Nathalias Überlegungen. Sie eilte an ein Fenster, blickte hinaus und sah unten eine große Kutsche stehen, der soeben Dorothea Simmern entschwebte.
»Lore, wir bekommen weiteren Besuch«, sagte sie und merkte erst dann, dass sie allein im Zimmer stand.
Sie eilte den Stimmen nach und unterbrach Rodegard von Philippsteins Vortrag über eines der Gästezimmer, das in deren Augen längst hätte eingerichtet werden müssen.
»Liebste Lore, eben ist Dorothea Simmern vorgefahren. Wollen wir sie nicht begrüßen?«
Lore zuckte zusammen. »Dorothea, sagst du? Bei Gott, wir haben kein einziges Bett mehr für sie frei.«
»Du willst sie doch hoffentlich nicht wieder wegschicken?«
»Natürlich nicht! Nur kommt sie heute äußerst ungelegen. Wir werden sehen müssen, wie wir sie unterbringen. Ach, ich weiß es. Sie wird mit dir zusammen im Barockbett schlafen. Ich ziehe mich in eine der Gesindekammern zurück, in der noch ein Bett steht.«
»Ja, mit einem durchgelegenen Strohsack.« Nathalia seufzte, denn sie würde Lore von diesem Plan nicht abbringen können. Oder gab es doch eine Möglichkeit?
»Halt, Frau Gräfin! Du wirst heute mit Dorothea das Bett teilen. Ich reite nach Steenbrook zurück und sehe zu, dass die Schlafzimmer, die ich dir versprochen habe, morgen gebracht werden.«
Lore schüttelte heftig den Kopf. »Dafür ist es zu spät. Du würdest heute nicht mehr bis Steenbrook gelangen. Außerdem kannst du nicht allein reiten!«
»Wir sind hier nicht in der Stadt, wo eine Dame selbstverständlich von einem Kavalier oder Reitknecht begleitet werden muss. Außerdem kann ich unterwegs auf Nehlen übernachten.«
»Ich weiß nicht …«, begann Lore, wurde aber von Nathalia unterbrochen.
»Du weißt sehr wohl, dass es sein muss. Wir brauchen mehr Betten! Denke nur an Fridolin. Er ist zwar nach Bremen gefahren, um mit Onkel Thomas zu sprechen. Aber sobald er zurück ist, brauche ich hier ein eigenes Zimmer und damit auch ein Bett. Und dann gibt es ja auch noch Konrad! Sollte Onkel Thomas ebenfalls kommen, müssten diese Besucher wirklich im Heu schlafen.«
Lore fielen zehn Gründe ein, die gegen Nathalias Plan sprachen, aber keiner, der handfest genug gewesen wäre, die junge Dame von einem Ritt in die Dämmerung abzuhalten. »Also gut«, sagte sie zuletzt zerknirscht. »Du wirst aber wohl noch die Höflichkeit haben, Dorothea zu begrüßen.«
»Sobald ich mich umgezogen habe!« Mit diesen Worten entschwand Nathalia und ließ Lore mit ihren Gästen allein.
Rodegard von Philippstein warf ihr einen indignierten Blick nach. »Die Komtess Retzmann hat ein sehr spontanes Wesen. So etwas mögen die Herren nicht.«
»Nein, die wollen so eine Transuse wie deine Tochter, bei der man am Morgen schon weiß, was sie beim Abendessen erzählen wird«, durchfuhr es Lore, und für einen Augenblick befürchtete sie, diese Bemerkung laut ausgesprochen zu haben.
Da Frau Rodegard noch immer in die Richtung sah, in die Nathalia verschwunden war, war dies wohl nicht der Fall gewesen. Doch dann sah sie Graf Nehlen amüsiert lächeln und eine Geste machen, als wolle er ihr applaudieren.
Lore hatte jedoch an anderes zu denken als an die boshafte Dame oder den alten Herrn. »Ich bedauere, die Hausführung für den Augenblick unterbrechen zu müssen, doch es ist ein weiterer lieber Gast erschienen, den ich nicht auf dem Hof stehen lassen will.«
Während ihr Graf Nehlen beipflichtete, zeigte Rodegard von Philippstein mit einem Schnauben, was sie von einer Frau bürgerlichen Standes wie Dorothea Simmern hielt, mochte deren Ehemann auch einer der wichtigsten Repräsentanten des Norddeutschen Lloyds und äußerst vermögend sein.
VII.
D orothea Simmern war eine zierliche Frau knapp unter vierzig und trug ein schlicht aussehendes, aber modisches Kleid, das sich vorteilhaft gegen die überladenen Kleider von Mutter und Tochter Philippstein abhob. Ohne ein Zeichen von Ungeduld stand sie auf dem Vorplatz, sah sich interessiert um und lächelte erfreut, als Lore aus dem Portal trat und auf sie zueilte.
»Liebste Dorothea, wie schön, dich hier begrüßen zu können!« Sie schlang die Arme um ihre Freundin und küsste sie auf die Wange.
»Ich bin froh, dich endlich wiederzusehen! Als ich hörte, du wärest auf
Weitere Kostenlose Bücher