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Juliregen

Juliregen

Titel: Juliregen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Klingenfeld zu verlassen. Es war gewiss nicht nur, um ein Bett für Dorothea frei zu machen. Zu ihrer eigenen Verwunderung hatte sich in ihr der Gedanke festgesetzt, sie müsse Jürgen beistehen. Er war kein Mann, der kalten Blutes ein Tier töten konnte, auch wenn sein Großonkel es ihm aufgetragen hatte.
    Nathalia wurde das Gefühl nicht los, dass der alte Herr Jürgen einer Probe unterzog, und sie wollte, dass er diese siegreich bestand. Obwohl ihr die Zeit unter den Fingern brannte, trieb sie ihre Stute nicht zu sehr an, denn Frühlingsmaid sollte nicht unter ihren Launen und Gefühlen leiden. Außerdem lag der kleine See von ihr aus gesehen vor dem Gut Nehlen. Also würde sie dort auf Jürgen warten. Doch was war, wenn er selbst zu lange brauchte und der Hirsch bereits wieder im Wald verschwunden war?
    Mit einer missmutigen Handbewegung schob Nathalia diesen Gedanken beiseite. Dann würde er den Hirsch eben am nächsten Tag erlegen müssen. Wenn sie ihn bat, sie vorher nach Steenbrook zu begleiten, um ein paar Möbel für Lore auszusuchen, fand sie gewiss eine Gelegenheit, ihm Mut zuzusprechen, und den brauchte er dringend.
    Nathalia lachte leise, als ihre Stute erneut in Galopp fiel und eine Abkürzung über eine gemähte Wiese nahm, die ihr eine gute Viertelstunde ersparte. Kurz bevor sie jenseits davon die Landstraße erreichte, entdeckte sie frische Pferdeäpfel und sagte sich, dass Jürgen klug genug gewesen war, ebenfalls über die Wiese zu reiten.
    Als sie eine Stelle erreichte, an der sie weit übers Land sehen konnte, war keine Spur von ihm zu entdecken. Vermutlich hatte er Gut Nehlen bereits erreicht oder befand sich sogar schon in dem Wäldchen, in dem der See lag. Unbewusst nickte sie. Auch wenn es Jürgen selbst nicht klar war, so hatte er doch einen festen Willen und die Bereitschaft, sich gegen die Widrigkeiten des Lebens zu behaupten.
    Während sie die Stute vorsichtig über einen zugewachsenen Pfad zum See hinunterlenkte, fragte sich Nathalia, weshalb sie sich so viele Gedanken um diesen Mann machte. Jürgen war weder eine so blendende Erscheinung wie sein Vetter Bukow, noch trat er so selbstbewusst auf wie Edgar von Gademer, und doch stach er unter diesen beiden heraus. Dabei wirkte er manchmal so hilflos, dass sie glaubte, ihn an der Hand nehmen und führen zu müssen. Andererseits war das, was er sagte, gleichermaßen von Verstand wie auch von großer Sensibilität geprägt.
    Außerdem – und das rechnete sie ihm hoch an – war er nicht so dumm, auf Rodegard von Philippsteins Intrigen hereinzufallen und zu glauben, der Weg zum Gut seines Großonkels führe nur über eine Heirat mit deren Tochter Gottlobine. Die beiden Damen Philippstein mochten zwar glauben, er habe keine Chance gegen seine glänzenden Vettern, doch sie begriffen nicht, dass dieser Glanz vor allem auf Schein beruhte. Ohne seine Uniform wäre Adolar von Bukow ein jämmerliches Nichts. Auch Gademer zeichnete sich nur durch seine Kenntnisse in der Landwirtschaft aus und würde bei jeder anderen Aufgabe schmählich versagen. Jürgen hingegen vermochte sich an vielen Stellen zu behaupten.
    »Hast du dich etwa in ihn verliebt?«, fragte Nathalia sich selbst.
    Im ersten Moment wollte sie den Kopf schütteln, war sich dann aber nicht mehr sicher, welche Gefühle sie dem jungen Mann entgegenbrachte. Himmelhochjauchzende Liebe war es gewiss nicht, doch ein Grundvertrauen in ihn und seine Art, wie sie es bisher nur bei wenigen Menschen verspürt hatte, ganz besonders bei Lore, aber auch bei Marys Mann Konrad und bei Thomas und Dorothea Simmern.
    »Nathalia, du träumst! Wach gefälligst wieder auf«, rief sie sich selbst zur Ordnung. Es war auch höchste Zeit, denn links vor ihr lag der kleine See, der zu Nehlen gehörte und unter den langen Schatten der Bäume gleichzeitig anheimelnd und geheimnisvoll wirkte.
    Im Osten zogen die Schleier der Dämmerung auf, während weit im Westen die Sonne als großer, roter Ball auf den Horizont traf und diesen in glühende Farben tauchte. Von Jürgen aber war weit und breit noch nichts zu sehen. Nathalia schätzte, dass er höchstens noch eine Viertelstunde Zeit hatte, um sich auf die Lauer zu legen. Wurde der Hirsch durch einen Umstand gewarnt, würde er wieder im Forst verschwinden und sich tagelang nicht mehr blicken lassen.
    »Jürgen, beeile dich!«, flehte sie stumm und presste die Hände zusammen. Dann sagte sie sich, dass auch sie selbst den Hirsch nicht warnen durfte. Rasch glitt sie

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