Jung genug zu sterben
Tastend und wieder streitend waren die beiden, die seit drei Jahren verlobt waren, die Stufen hinaufgestiegen. Allein die Tatsache, dass die Alten sie gesehen hatten, brachte Fogh auf.
»Also, was ist, Christine? Es wird Zeit. – Wenn du es so machst, wie ich gesagt habe, sieht es nach Unfall aus«, wiederholte er.
»Ich mache es nicht, und damit basta«, sagte sie und blickte aus dreiunddreißig Meter Höhe über St. Moritz, die Bahngleise, den See und in die Wälder.
»Und ich kann nicht hineingehen und Melina einen Bonbon anbieten. Reintasten und ihr eine Spritze geben? Das geht nur im Film.«
»Dann lassen wir es. Es wird andere Wegegeben, sie daran zu hindern, Lena aufzutreiben und vom Sprechen abzuhalten.«
»Du bist naiv!« Er sah hinunter und überlegte. »Steht das Gerüst auf dieser Seite?«
Vorsichtig trat sie ein Stück nach vorn. Zuerst hielt sie sich an Fogh fest, dann zog sie als Halt den Eckpfeiler vor. »Nein.«
Er sah auf die Uhr. »Die Kinder werden dich vermissen, Christine. Gib mir dein Handy!«
Jahrelange Routine: Sie überlegte keine Sekunde und gab es ihm.
»Hast du ihre Nummer einprogrammiert?«
»Wessen Nummer? Melinas?«
»Natürlich Melinas.«
»Ja. Ich habe immer die Nummern der Gruppenmitglieder dabei. Du weißt, da bin ich sorgsam.«
»Ja, da bist du sehr sorgsam.« Er grinste. Er tippte eine SMS ein und zeigte sie Christine: »MELINA – KOMM SOFORT AUF DEN KIRCHTURM NEBEN DEM KINO. SAG KEINEM WAS, ES SOLL EINE TOLLE ÜBERRASCHUNG WERDEN. CHRISTINE«
»Tolle Überraschung! – Gib her!«
Aber Fogh schickte die SMS ab.
»Sie hat das Handy im Kino abgeschaltet«, behauptete Christine.
»Wir werden sehen. Die meisten Handys haben einen stummen Alarm für eine SMS.«
»Was willst du mit Melina? Den Bonbon anbieten? Lächerlich!« Ihr Blick fiel auf die Via Maistra unten neben dem Kino. »Nein, oder? Sie da runterstoßen?«
»Du wolltest ihr die Aussicht zeigen. Ein Vorschlag, gleich nach dem Film mit den Kindern hier hochzukommen. Was natürlich verboten ist. Aber ein tolles Abenteuer. Du wolltest sie nach ihrer Meinung fragen, ob es zu gefährlich ist und ob ihr es wagen solltet. Leider ist sie dann abgerutscht. Du siehst, es ist unaufgeräumt hier oben. Man stolpert leicht.«
»Du spinnst.«
»Wieso? Wir haben auch noch das Antiepileptikum. Du könntest es ihr gegeben haben wollen. Schließlich hast du es seit dem Unfall von Jan Sikorski bei dir. Aber sie bekam Panik und du konntest sie nicht halten.«
»Epilepsie ist ja wohl bei ihr unwahrscheinlich.«
»Aber ihr ist schwindelig geworden, und du dachtest, sie hatte einen
petit mal
. Damit nicht noch einmal das passiert, was mit Sikorski geschehen ist, wolltest du ihr helfen, aber sie ist leider gestürzt. Das gibt eine Untersuchung, aber was ist unglaubhaft daran? Außerdem hast du die SMS.«
»Du vergisst die alten Leute, die uns gesehen haben.«
»Die ziehen enttäuscht von dannen, steigen in ihren Zug und kommen nie wieder. Woher soll jemand wissen, dass die hier waren und dass man sie nach mir fragen soll? Komm, mach es nicht kompliziert!«
»Melina kommt«, sagte Christine.
»Siehst du. Braves Mädchen.«
Christine packte ihn. »Du lässt sie in Ruhe.«
»Ach, willst du es jetzt machen? – Los, sie schaut hoch, winke! Winke! – So ist gut.«
Melina staunte. Der Kirchturm stand beeindruckend schief. Frühere Generationen hatten ihn abgestützt, aber sie zweifelte, ob das reichte. Ein Baugerüst gab es schon. Christine winkte.
Soll ich da wirklich hoch? Wozu? Warum ist sie während des Films abgehauen?
Neben einer Bauplane schimmerte eine auf den weißen Putz des Turmes gemalte Sonnenuhr.
Die Holztür klemmte, ließ sich aber mit einiger Kraft aufziehen. Sie ließ die Tür offen, weil es drinnen dunkel war.
»Christine? Christine! – Gibt es hier kein Licht?«
Ein kurzer Ruf war die Antwort, nicht zu identifizieren.
Na schön, sie will mir die Aussicht zeigen. Was hat sie vor? Will sie die Kids auch mit Handys herlocken? Das könnte sie mir auch hier unten sagen. Oder will sie, dass wir die Glocken läuten? Das wäre lustig. Ui, und sicher bekämen wir jede Menge Ärger. Scherereien mit den Behörden, mit der Kirche, mit dem PALAU, dann mit den Eltern, weil wir keine Vorbilder sind …
»Christine?«
Sie tastete sich Stufe um Stufe hinauf. Ab und zu trat sie auf einen Stein oder eine Holzlatte. Der Turm war nicht freigegeben zum öffentlichen Aufstieg. Zunehmend ärgerte sie sich
Weitere Kostenlose Bücher