Jung genug zu sterben
Zuerst schüttelte sie den Kopf, so gut es ging, weil sie an einen Käfer oder eine Spinne glaubte.
Nein, es ist Blut.
Erst dann merkte sie, dass sie weinte. Der Oberkörper zitterte einmal vom Schluchzen. Das fühlte sich gut an, es entspannte sie. Sie dachte – nicht mehr.
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Eugen Lascheter betrachtete die Fahrkarte:
Zürich Hauptbahnhof ab 12 : 35, Gleis 5
Chur an 13 : 53, Gleis 9
Chur ab 13 : 58, Gleis 10, RE 1141
Samedan an 15 : 46
Samedan ab 15 : 49, R 1941
Pontresina an 15 : 56
Pontresina ab 16 : 04, R 1641
Alp Grüm an 16 : 45
Vier Stunden und acht Minuten für drei Zentimeter auf der Karte! Dabei hatten sie gesagt, es gebe Züge, die von Chur aus wenigstens durchfahren.
Er sah aus dem Fenster, dachte an die Jahre in St. Gallen am ersten
Institut Zucker
und an den einen oder anderen Kongress in Davos. Erst ohne, dann mit Noëlle. Ab jetzt wieder ohne sie.
Schade drum.
Ihm gegenüber, Erste Klasse, saß eine gräflich dreinblickende Dame. Sie las eine Zeitung, die in Rumantsch geschrieben war, und starrte den Kahlkopf vor ihr immer dann über den Rand des Blattes an, wenn er hinaussah oder sich, wie jetzt, seinem E-Pad zuwandte.
Er ging noch einmal die Kreuzvergleiche der letzten Listen durch, die Reihen T43, T43a und b sowie f bis h, T44 – 0, T44, T44a.
Ich kann hier noch eine ganze Weile herumstochern, dachte er. Wie ich es drehe und wende, Fakt ist, dass wir immer dann mehr weiße Masse mutmaßen können, wenn wir das Risiko erhöhen. Die beste Reihe, die wir hatten, war die mit Jan Sikorski. Da haben wir am wenigsten Kompromisse gemacht, so wie jetzt ab T44b. Die epileptoformen Anfälle häufen sich zwar, aber die Eltern sind beruhigt, wenn wir sagen, dass wir Schlimmeres verhüten. Und sie dann rausnehmen, auf eine Gruppenfahrt, wo wir sie besser kontrollieren können. Ab und zu
un petit mal
. Es darf nur eben niemand die Gehirne zu sehen bekommen, das ist alles. Man könnte sonst leicht denken, die Patienten hätten eine Gehirnerweichung, und zwar eine echte.
Er ging noch einmal alle Fußnoten durch, die er in die Tabellen eingetragen hatte. Sie wiesen auf individuelle Besonderheiten der Testpersonen hin. Abweichungen, die sich nicht systematisch erklären ließen.
Es sind zu wenige. Ich brauche zehn Reihen mit mindestens zehn Hirnen. Für die Validität und die Varianten: mal zehn. Tausend. Das nenne ich eine Herausforderung.
Er lächelte in die Bergwelt.
Und die Dame lächelte ihm nun ebenfalls zu.
Lascheter sah auf die Uhr. Er schloss die Listen und sah sich die Dateien an, die er aus dem Internet geholt hatte. Sie enthielten Fotos von Jenissej und Artikel über ihn. Christine hatte Jenissej erwähnt, und die Geschäftsführerin hatte bei seinem Anruf so bezeichnend herumgestottert, dass klar war: Lenas Vaters war auf der Alp Grüm untergekommen.
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Oskar Schroeter hatte jede Sequenz mit dem Schnittprogramm gemessen. Er markierte die Tabelle, die die Zeiten enthielt, und ließ sich ihre Verläufe erst als Säulendiagramm, dann als Kurven zeigen. Er drehte das Bild, dehnte es, änderte die Formel und wartete. Aber es zeigte sich keine Auffälligkeit. In den Längen der Szenen gab es keine Gemeinsamkeiten, keine codierten Inhalte – oder er sah sie nicht.
Der nächste Arbeitsschritt war aufwendiger. Schroeter maß die Abstände zwischen den Weißblenden. Aus irgendeinem Grund hatte Lena immer wieder weiße Überblendungen eingefügt.
Eigentlich setzt man sie zwischen zwei Szenen ein, um von der einen zur anderen überzuleiten. Das blitzartige Weiß dazwischen gibt einem solchen Schnitt eine besondere Betonung. Die Zuschauer sollen merken, dass hier geschnitten wurde. Im Fernsehen war es ein beliebter Effekt, etwa wenn merkwürdige Situationen aneinandergereiht wurden. Oder wenn eine Person nach der anderen mit dem gleichen Gag vor versteckter Kamera hereingelegt werden sollte.
Schroeter hasste Weißblenden. Einmal hatten er und Jenissej eine Woche nicht mehr miteinander geredet, weil Schroeter sich geweigert hatte, Reportageschnipsel mit diesem Effekt zu garnieren. Dabei ging es nur um einen Film, der unscharf in eine Kulisse hineinprojiziert werden sollte und nicht Teil der Haupthandlung von Jenissejs Stück
Kriegskauf
war.
Lena überblendete nicht von Szene zu Szene, sie verwendete die Weißblende als Einschub, sogar bei Standbildern.
Wahrscheinlich weiß sie nicht, was das für eine Taste ist. Spielt
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