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Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)

Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)

Titel: Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Korte
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sich aus der Rolle des Abrufkontextes bei der Konstruktion subjektiver Erfahrungen, der Ansprechbarkeit des Erinnerns für nachträgliche Einflüsse und der Unzuverlässigkeit des Quellengedächtnisses.
    Ältere Menschen berichten immer wieder davon, wie sie völlig unvermittelt ganze Geschichten aus ihrem Leben erinnern können, mit allen Details, wodurch sie eine besondere Glaubwürdigkeit bekommen. Diese sogenannte Blitzlichterinnerung ist eine lebhafte und detailreiche Erinnerung an ein meist für einen selbst bedeutsames Ereignis – sowie daran, unter welchen Umständen man von ihm erfuhr. Aber auch Blitzlichterinnerungen sind anfällig für Fehler: Deutsche, die dem Mauerfall 1989 positiv gegenüberstanden, erinnern sich heute lebhafter und emotionaler, aber weniger exakt an die Wende als deren einstige Kritiker. Blitzlichterinnerungen können nachträglich durch Medienberichte oder Gespräche über das Ereignis verfälscht werden. Womöglich bilden sie sich nicht einmal im fraglichen Moment, sondern erst im Nachhinein.
    Es gibt noch mehr Bedenkliches von unserem autobiographischen Gedächtnis zu berichten. Schon Marcel Proust beschrieb in seinem berühmten Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die beunruhigende Tatsache, dass seine Fähigkeit, die Vergangenheit in die Gegenwart zurückzuholen, davon abhing, ob es geeignete Abrufreize gab. In seinem Roman ist es das von vielen Gedächtnisforschern immer wieder gerne zitierte Gebäckstück namens Madeleine, das beim Eintauchen in den Tee lange, längst verschüttet geglaubte Sequenzen aus Prousts Kindheit und Jugend lebendig werden lässt.
    Dies zeigt einmal mehr, dass wir nicht unbedingt Herr unserer Vergangenheit sind. Was uns aus vergangenen Zeiten einfällt, hängt auch von Zufallsbegegnungen ab, und dies gilt nicht nur für Senioren. Da unser Denken, vor allem in einem alternden Gehirn, mehr von dem abhängt, was wir erinnern können, als von dem, was es noch zu lernen hat, ist es umso beängstigender, dass das erfolgreiche Abrufen von Erinnerung wesentlich auf die Verfügbarkeit passender Abrufreize angewiesen ist. Hat man diese Tatsache einmal zur Kenntnis genommen und akzeptiert, kann man auch versuchen, die Macht der Abrufreize bewusst zu Hilfe zu nehmen, indem man z. B. Fotoalben, Filme und Musik aus alten Tagen heranzieht, um den Erinnerungsspuren eine Chance zu geben, an die Oberfläche zu gelangen.
    Postkarte aus dem Leben
    Folgende Begebenheit beleuchtet das frappante Erinnern wichtiger Erlebnisse aus der Jugend – Erinnerungen, die in den fragilen Strukturen unserer synaptischen Kontakte 70 Lebensjahre und mehr überstanden haben: Zwei Schwestern, beide weit über 80, treffen sich nach vielen Jahren auf einem Familientreffen wieder. Die Kinder und Enkel haben keine Mühen gescheut, die beiden alten Schwestern nochmals zusammenzubringen, doch der Versuch scheitert. Innerhalb weniger Minuten entgleist die freundliche Atmosphäre. Das, was so glorreich und gut gemeint begann, entwickelt sich schnell zu einem Fiasko: Anstatt über das Leben jetzt oder auch über alte gemeinsam verlebte Zeiten zu plauschen, wie es von den Kindern und Enkeln mit Vorfreude erwartet wurde, wirft die eine der anderen lautstark vor, sie habe ihr den Freund ausgespannt: damals, nach dem Krieg, vor 75 Jahren, als man gemeinsam zum Tanzen ausgegangen war. »Das ist doch so lange her, längst verjährt«, versuchen die Angehörigen den Zwist beizulegen. Doch für die eine ist die Verletzung, die Schmach, so schmerzhaft, als wäre sie erst gestern geschehen. Kopfschüttelnd resignieren die Angehörigen. Wie kann man nur so nachtragend sein?

KAPITEL 5
    Fröhliche Senioren? Wie das Altern unser Gefühlsleben verändert
    »Das Alter ist ein natürlicher menschlicher Zustand, dem Gott seine eigenen Gefühle geschenkt hat, die ihre eigenen Freuden in sich tragen.«
    Wilhelm von Humboldt
    Mythos Midlife-Crisis
    Eine ältere Frau, wohl Mitte 50, die sich sichtlich bemüht, sich ihre Trauer nicht anmerken zu lassen, aber dann doch ein paar Tränen verdrückt. Ein älterer Mann, der sehr ernst aussieht, während der gemeinsame Sohn seine Siebensachen packt und sich in einem voll beladenen Auto offensichtlich zum Studieren in eine andere Stadt aufmacht. Er hinterlässt ein fast leeres Kinderzimmer. In der Schlusssequenz des kleinen Films nehmen sich die Eltern in den Arm und schauen dem davonfahrenden Sohn so traurig hinterher, als nähmen sie Abschied vom Leben. Bis dahin weiß

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