Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
der wird erstellt, indem man die gefundenen Knochenstücke mit anderen verfügbaren Fragmenten vergleicht und sie mit dem allgemeinen Wissen darüber, wie ein Dinosaurier auszusehen hat, kombiniert. Entsprechend sind für einen Menschen das Engramm (die eingespeicherten Fragmente eines Erlebnisses in Form von Gedächtnisspuren im Gehirn) und die Erinnerung (das subjektive Erlebnis der Vergegenwärtigung eines vergangenen Erlebnisses) nicht dasselbe. Die gespeicherten Fragmente tragen natürlich zum bewussten Erleben einer Erinnerung bei, aber sie sind nur ein Teil dieser Erinnerung. Ein anderer wichtiger Bestandteil ist der Abrufreiz selbst, also die Umstände, unter denen etwas abgerufen wird. Der Hinweisreiz verbindet sich mit dem Engramm zu einem neuen Ganzen, das sich von seinen einzelnen Bestandteilen unterscheidet, die Erinnerung wird beim Abruf neu geschaffen. Sie ist deshalb nicht willkürlich, aber die Umstände, unter denen wir etwas abrufen, können beeinflussen, wie wir etwas erinnern.
Laborexperimente bestätigen dies: Zu Fotos von Personen wurden freundlich oder unfreundlich klingende Stimmen eingespielt, die die Versuchsteilnehmer sich zusammen mit den Fotos merken sollten. Einige Zeit später wurden die Probanden aufgefordert, zu erinnern, ob in dem Moment, wo sie ein bestimmtes Foto gesehen hatten, eine freundliche oder eine unfreundliche Stimme erklungen war. Da sie sich jedoch gemerkt hatten, ob die Personen auf den Fotos freundlich oder unfreundlich geschaut hatten, erinnerten sie sich falsch. Allein entscheidend war für sie, ob die Personen auf den Fotos leicht lächelten oder nicht. Der in Harvard lehrende Neurologe Daniel Schacter fasst das folgendermaßen zusammen:»Die Vorstellung, dass es eine 1:1-Beziehung zwischen einer Information gibt, die irgendwo in unserem Gehirn eingespeichert ist, und der bewussten Erfahrung einer Erinnerung, die sich aus der Aktivierung dieser Information ergibt, ist so unmittelbar einleuchtend, dass es fast töricht erscheint, sie in Frage zu stellen.«
So wie wir guten Freunden vertrauen, vertrauen wir auch unserem Gedächtnis - häufig auch zu Recht; anhand von Erfahrungen wie den oben beschriebenen »falschen Erinnerungen« (false memories) kann man aber auch lernen, wie das Gedächtnis unsere Erinnerungswelt geradezu erschafft.
Von den sieben kleinen und großen Gedächtnissünden
Der Gedächtnisforscher und Neurologe Daniel Schacter hat vermeintliche Fehlleistungen unseres Gedächtnisses zusammengetragen und klassifiziert; er nennt sie die sieben Sünden des Gedächtnisses – wobei diese Bezeichnung mit Augenzwinkern gemeint und auch zu verstehen ist, denn viele dieser Sünden haben ihren evolutionsbiologischen Sinn:
1.Flüchtigkeit: Es ist kein Fehler, sondern ein Merkmal unseres Gedächtnisses, dass es mit der Informationsspeicherung sehr selektiv umgeht. Nur ein Bruchteil dessen, was wir erlebt haben, wird abgespeichert, und selbst das, was gespeichert wird, unterliegt zu einem nicht unerheblichen Teil dem Vergessen. Wer möglichst viel von dem behalten möchte, was er lernt, sollte in kleinen Lerneinheiten, aber dafür häufiger lernen und das Gelernte aktiv anwenden. Alles, was wir an Wissenselementen und Fertigkeiten häufig verwenden, wird weniger leicht vergessen. Es sei aber auch daran erinnert, dass das implizite Gedächtnis sowie das generische Gedächtnis für Mustererkennung nur zu einem sehr geringen Teil dem Vergessen unterliegen.
2.Unkonzentriertheit ist einer der Hauptgründe für Vergesslichkeit im Alter und hat nur wenig mit unserem Langzeitgedächtnis zu tun als vielmehr damit, wie aufmerksam und wie leicht ablenkbar man ist. Das bedeutet, dass die Information gleich am Beginn der Informationsverarbeitung nicht richtig neuronal kodiert wird und damit schnell wieder aus den neuronalen Schaltkreisen verschwindet, da sie nicht vertieft kodiert wird. Zum Beispiel ärgert man sich oft, den Namen einer Person bei einem Treffen nicht mehr zu erinnern, obwohl sie einem vorgestellt wurde. Oft haben ältere Menschen den Namen aber schon beim ersten Mal nicht richtig verstanden oder ihn nicht noch mal vor sich hin gesagt oder die Person nicht direkt mit Namen angesprochen.
3.Blockade: Es liegt einem etwas auf der Zunge – ein Phänomen, das einen ein Leben lang begleitet, aber im Alter besonders ärgerlich wird, da es gehäuft auftritt. Man ist sich sicher, die Antwort zu kennen, aber in einer konkreten Situation will einem der konkrete
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