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Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)

Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)

Titel: Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Korte
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seines Gedächtnisses. Um einmal Abgespeichertes wieder zu vergessen, musste Schereschewski den gleichen Aufwand betreiben, den wir »Normal-Mnemoniker« an den Tag legen müssen, um uns an etwas zu erinnern. So versuchte er etwa mit einem virtuellen Schwamm, zum Teil sogar mit Erfolg, Tafelanschriften vor seinem inneren Auge zu löschen.
    Leider kann nicht mehr geklärt werden, in welchem organischen Substrat das absolute Gedächtnis von Schereschewski begründet lag. Trotz dieses traumhaft guten Gedächtnisses hatte Schereschewski Probleme, Grundgedanken zu abstrakten Begriffen zusammenzufassen oder komplexe Zusammenhänge zu erkennen. Es fiel ihm schwer, die Bedeutung eines Geschehens zu erfassen. Auch einer vorgelesenen Geschichte zu folgen bereitete ihm Probleme, da er dabei einer Explosion von sensorischen Erlebnissen ausgesetzt war. Was wir aus diesen und anderen instruktiven individuellen Beispielen lernen können, ist: Um sich effektiv in unserer Welt zurechtzufinden, bedarf es nicht nur eines guten Gedächtnisses, sondern auch des klugen Vergessens und Aussortierens von Abgespeichertem. Aus Informationen sinnvolles Wissen zu machen bedeutet, eine Auswahl zu treffen statt beliebig viele Informationen zu speichern. Eine Bildszene etwa muss man in vertretbarer Zeit analysieren können, und dies gelingt nur, indem man sich auf einige wenige Dinge konzentriert und andere Details weglässt oder übersieht. Ohne eine selektive Sinnesverarbeitung, ohne eine selektive Aufmerksamkeit, aber auch ohne ein selektives Gedächtnis, das wir oft als schlecht bezeichnen, ist niemand imstande, aus der Flut von Informationen, mit der wir ständig konfrontiert sind, einen Sinn zu erschließen. Vergessen ist keine Fehlentwicklung unseres Gedächtnisses, sondern ein integraler Bestandteil, was nicht bedeuten soll, dass wir im Alter den Kampf gegen das Vergessen verloren geben sollten. Aber es erinnert daran, dass die Selektivität des Gedächtnisses auch seinen evolutiven Sinn hat. Und im Alter ist es wichtiger, aus dem riesigen Wissensschatz, den man angehäuft hat, zu schöpfen, als ständig völlig Neues zu lernen. So frustrierend das Vergessen ist, es ist eine adaptive Eigenschaft unseres Gedächtnisses.
    Führen wir uns diesen neuronalen Rekonstruktionsprozess eines autobiographischen Erlebnisses noch mal vor Augen: Die Spur (Engramm) der Erinnerung wird nicht in einem einzelnen Gehirnareal abgelegt, sondern in vielen Gebieten mit unterschiedlichen Funktionszuweisungen. Areale, die mit Sinneswahrnehmungen beschäftigt sind, bewahren auch Fragmente der Sinneserfahrungen auf, kleine Bruchstücke von Bildern, Gerüchen, Geschmäckern und Lauten, denen wir begegnet sind. Andere Gebiete im Gehirn, die der Neuroanatom Antonio Damasio Konvergenzzonen nennt, enthalten ihrerseits Codes, die diese Fragmente der Sinneserfahrungen miteinander und mit schon vorhandenem Fakten- und Erfahrungswissen sowie autobiographischen Erlebnissen verbinden können.
    Auf diese Weise rekonstruieren wir komplexe Aufzeichnungen früherer Kodierungen. Erinnerungen kommen dann zustande, wenn Impulse aus den Konvergenzzonen des Gehirns die gleichzeitige Aktivierung von Fragmenten der Sinneserfahrung auslösen, die einst miteinander verbunden waren. Eine konkrete Erinnerung ist somit eine temporäre Aktivitätskonstellation in unterschiedlichen Hirngebieten, eine Konstruktion, die viele Akteure hat und die frühere neuronale Aktivitäten als Kodierung von Erlebnissen in das aktuelle Symphonieorchester-Programm des Gehirns einspeist und die neuronale Netzwerkaktivität während dieses Vorganges ändern kann. Bedeutet dies nun doch, dass der Abruf einer Erinnerung einfach nur eine schlummernde Erinnerung weckt? So einfach ist die Sache leider nicht, wie wir schon am Beginn des Kapitels festgestellt haben.
    Sie können mit Ihrem Lebenspartner, alten Freunden, Ihren Eltern, Kindern oder Geschwistern folgendes Spiel machen: Benennen Sie ein Ereignis, das länger als 20 Jahre zurückliegt, an das aber alle eine Erinnerung haben sollten. Nachdem jeder für sich in Stichworten aufgeschrieben hat, was er erinnert, erzählen Sie sich gegenseitig, wie Sie jeweils von dem Erlebnis im Gedächtnis behalten haben. Sie werden schnell merken, wie unterschiedlich die Erinnerungen im Detail und in ihren Bewertungen sind.
    Ähnlich wie die Knochenstücke eines Dinosauriers, die ein Paläontologe ausgegraben hat, nicht das Gleiche sind wie der rekonstruierte Dinosaurier. Denn

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