Junimond (German Edition)
war.
Nur eine Radumdrehung weiter befanden sie sich auf der anderen Seite, im Umland von Berlin, das aber in diesem Fall schon ein Außenbezirk von Potsdam war. Die Städte grenzten unmittelbar aneinander. Eine seltsame Vorstellung. Früher war die Straße, war Deutschland hier geteilt gewesen, nun fuhren sie weiter, einfach so. Und obwohl es der alte Osten war, die ehemalige kommunistisch-sozialistische Seite, fielen Stella als erstes zwei riesige Häuser auf, die mit ihren großen hölzernen Balkonen an der Vorderfront wie reiche Gasthöfe aussahen. Daneben standen, wie kleine Geschwister, Schrebergartenhäuschen, denen man zum Teil noch anmerkte, wie improvisiert ihre Bewohner sie zu Ostzeiten instand gehalten hatten. Ihre Mutter fuhr langsamer und bog rechts in eine breite Allee ein. »Diese Straße hieß ganz früher mal Kaiserstraße.«
»Aha«, sagte Stella mäßig interessiert.
»Unter den Nationalsozialisten hieß sie dann Straße der SA .«
»Diese Kampfabteilung der Nazis?«
»Genau. Und zu DDR-Zeiten wurde die Straße dann in Karl-Marx-Straße umbenannt.«
Stella grinste. »Okay, und jetzt heißt sie Straße der Freiheit ?«
»Nein, Straße der Liebe und Glückseligkeit .«
Sie blinzelte irritiert. »Echt?«
Ihre Mutter lachte.
»Nein, immer noch Karl-Marx-Straße . Schau mal nach rechts.«
Ihre Mutter fuhr an den Rand, schaltete den Motor aus und deutete auf eine große dreistöckige Villa inmitten eines riesigen Grundstücks. Luxus pur.
»Sind wir schon da?«
»Nein. Ich will dir nur was zeigen. Du bist doch so ein Geschichtsfan und willst Jura studieren?«
»Und was hat das mit dem Haus zu tun?«
Stella merkte, dass ihre Mutter sie ködern wollte. Erst mit der schönen Gegend, jetzt mit Geschichte. Sie kurbelte lustlos das Beifahrerfenster herunter.
»Das ist die Truman-Villa«, sagte ihre Mutter übertrieben begeistert.
»Und?«
»Weißt du, wer Truman war?«
»Ein amerikanischer Präsident?«
»Genau. Truman hat hier als Teilnehmer der Potsdamer Konferenz gewohnt. Es gibt diese Geschichte, dass er von hier den Befehl zum Abwurf der Atombombe auf Hiroshima gegeben hat. Die Amerikaner haben die Villa Little White House getauft.«
»Echt?«
Ihre Mutter lächelte. Obwohl sich Stella geschworen hatte, nichts an der Gegend interessant oder spannend zu finden oder auf irgendeine Weise zu mögen, wurde sie neugierig.
»Und wer hat hier vorher gewohnt?«
»Die Villa wurde für einen Berliner Verleger und seine Familie erbaut.«
Stella blinzelte zu dem Haus hinüber. Wenn man hier wohnte, würde man nie das Problem haben, dass jemand den Joghurt aus dem Kühlschrank gegessen hatte oder das Bad besetzt war.
Ihre Mutter fuhr wieder an und bog gleich darauf erneut rechts ab. Stella ließ das Fenster offen und spürte den lauwarmen Fahrtwind, roch sogar den See, der hinter einigen Häusern auf der rechten Seite aufblitzte. Die Straße war schmal, auf beiden Seiten parkten Autos, sie mussten langsam fahren. Ihre Mutter zeigte mit einem Arm nach rechts und lehnte sich weit über das Steuer.
»Diese Häuser hier am See«, erläuterte sie, »waren zu DDR-Zeiten alle unbewohnt, weil sie zu nah an der Grenze zu West-Berlin standen. Unser Haus liegt ziemlich am Ende der Straße. Nummer ...«
Sie kramte mit einer Hand in ihrer großen indischen Stofftasche auf der breiten Vordersitzbank und Stella sagte schnell: »47«, bevor ihre Mutter in eines der parkenden Luxusautos schleuderte. Stella hatte ein sehr gutes Gedächtnis für Zahlen, Namen und eigentlich für alles, was man ihr erzählte oder was sie las.
Auf einmal war Stella doch aufgeregt. Sie hatte noch nie in einem Haus gewohnt und noch nie allein mit ihrer Mutter, ohne Mitbewohner. Rechts zogen Villen vorbei, eine ausgefallener und pompöser als die nächste. Die meisten Häuser waren mit Sicherheitsanlagen ausgestattet, Kameras an den Toren und hohen Hecken, doch vom Bus aus konnte sie auf die sauber gemähten Rasenflächen sehen und die Rosenstöcke vor den Hauseingängen, die Kiesauffahrten.
Die Nachmittagssonne tauchte alles in ein warmes, freundliches Licht. Das hier ist nicht echt , dachte Stella, das muss eine Szene aus einem Märchenfilm sein. Ein Disneyland der Architektur. Es gab verwinkelte Häuser mit etlichen kleinen Erkern und Turmspitzen und daneben langgestreckte, zweigeschossige Villen mit klaren Fensterachsen, die an klassizistische Schlösser erinnerten. Es folgten einige Neubauvillen. Stella verfolgte die
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