Just Kids
zurückzugeben und sie um Verzeihung zu bitten.
Am Tag darauf hatte meine Schwester Linda Geburtstag, doch es gab kein Fest: Stephanies Zustand hatte sich verschlechtert, und mein Vater und meine Mutter meldeten sich im Krankenhaus, um Blut zu spenden. Als sie zurückkamen, weinte mein Vater, und meine Mutter kniete sich neben mich, um mir zu sagen, dass Stephanie gestorben war. Ihre Trauer schlug schnell in Besorgnis um, als sie meine Stirn fühlte. Ich glühte im Fieber.
Unsere Wohnung wurde unter Quarantäne gestellt. Ich hatte Scharlach. In den Fünfzigern war diese Krankheit sehr gefürchtet, weil sie ein tödliches rheumatisches Fieber nach sich ziehen konnte. Unsere Wohnungstür wurde gelb angestrichen. Ich war ans Bett gefesselt und konnte nicht zu Stephanies Beerdigung gehen. Ihre Mutter brachte mir ihre zahllosen Comics und ihre Zigarrenkiste mit Anhängern. Nun hatte ich alles, all ihre Schätze, aber ich war viel zu krank, um sie auch nur anzusehen. Damals erfuhr ich, wie schwer die Sünde wiegen konnte, selbst eine so kleine Sünde wie der Diebstahl eines Eiskunstlauf-Ansteckers. Ich dachte darüber nach, dass ich, auch wenn ich mich noch so sehr bemühte, gut zu sein, niemals vollkommen sein würde. Genauso wenig würde ich je Stephanies Vergebung erlangen. Aber als ich Nacht für Nacht dalag, kam mir die Idee, es gäbe vielleicht die Möglichkeit, mit ihr zu reden, indem ich zu ihr betete, oder zumindest Gott bat, ein gutes Wort für mich einzulegen.
Robert liebte diese Geschichte, und an kalten, verschlafenen Sonntagen bekniete er mich manchmal, sie zu erzählen. »Lass mich die Stephanie-Geschichte noch mal hören«, sagte er immer. Ich ließ kein Detail aus, wenn ich in den langen Morgenstunden unter der Bettdecke Geschichten aus meiner Kindheit erzählte, von ihrer Traurigkeit und ihrer Magie, während wir uns einzureden versuchten, wir hätten keinen Hunger. Und wie immer, wenn ich an die Stelle kam, an der ich die Schmuckschatulle öffnete, rief er: »Patti, neeein …!«
Wir lachten über unsere jüngeren Ichs und waren uns einig, dass ich ein böses Mädchen war, das versuchte, gut zu sein, und er ein braver Junge, der gerne böse gewesen wäre. Im Lauf der Jahre drehten sich diese Rollen wieder und wieder um, bis wir so weit waren, unsere zwiespältigen Charaktere zu akzeptieren. Wir vereinten gegensätzliche Prinzipien in uns, Licht und Schatten.
Ich war ein sehr verträumtes Kind. Ich regte meine Lehrer damit auf, dass ich frühzeitig lesen konnte, jedoch völlig unfähig war, mit dieser Fähigkeit irgendetwas anzufangen, das sie als praktisch erachteten. Einer nach dem anderen vermerkten sie in meinen Zeugnissen, dass ich viel zu oft vor mich hin träumte, immer irgendwo anders war. Wo sich dieses Irgendwoanders befand, kann ich nicht sagen, aber es war der Grund, weshalb ich mich sehr oft gut sichtbar für alle auf einem Hocker in der Strafecke wiederfand, mit einem spitzen Papierhut auf dem Kopf.
Später hielt ich diese erheiternd-erniedrigenden Momente in großformatigen, detaillierten Zeichnungen für Robert fest, er war von ihnen entzückt, weil er offenbar all das an mir schätzte, was mich anderen verhasst machte oder entfremdete. In diesem visuellen Dialog wurden meine Jugenderinnerungen zu seinen.
Ich war unglücklich, als wir unseren »Acker« verlassen mussten und unsere Sachen packten, um im Süden von New Jersey wieder von vorne anzufangen. Meine Mutter bekam ein viertes Kind, das wir alle mit großzuziehen halfen, ein kränkliches, aber fröhliches kleines Mädchen namens Kimberly. Ich fühlte mich zwischen den Sümpfen, Pfirsichplantagen und Schweinefarmen um uns herum isoliert und abgeschnitten. Ich vergrub mich in Bücher und begann, eine Enzyklopädie anzulegen, die jedoch nur bis zum Eintrag zu Simón Bolívar gedieh. Mein Vater brachte mich auf Science-Fiction, und eine Zeit lang leistete ich ihm Gesellschaft, wenn er die UFO-Aktivitäten am Himmel über der örtlichenSquare-Dance-Halle überwachte und fortwährend den Ursprung unserer Existenz infrage stellte.
Mit ungefähr elf Jahren hatte ich an nichts mehr Freude, als mit meinem Hund lange Spaziergänge in den umliegenden Wäldern zu unternehmen. Überall wuchsen Zehrwurzeln, Rohrkolben und Stinktierkohl aus der lehmigen roten Erde. Ich suchte mir ein schönes, einsames Plätzchen an einem Bachlauf voller Kaulquappen und machte eine Pause, den Kopf an einen umgestürzten Baumstamm gelehnt.
Mein Bruder Todd
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