Just Listen - Roman
Ich habe sie gebeten zu verschwinden, aber so was ignoriert sie einfach. Meine Güte! Ich kann kaum fassen, dass sie erst zwölf ist. Echt krank.«
»Echt theatralisch«, murmelte Whitney und spießte mit ihrer Gabel ein Salatblatt auf.
Natürlich hatte sie recht. Kirsten machte aus allem ein Drama, darin schlug sie bei uns zu Hause keiner. Sie gab grundsätzlich Vollgas, sowohl in ihren Gefühlen als auchmit dem Mund, denn sie redete ohne Unterlass, sogar wenn ihr durchaus klar war, dass keiner zuhörte. Im Gegensatz dazu war Whitney extrem schweigsam, was dazu führte, dass die wenigen Worte, die sie von sich gab, viel mehr Gewicht hatten.
»Sei nett, Kirsten«, sagte meine Mutter.
»Habe ich ja versucht, Mama. Aber wenn du sie sehen würdest, würdest du sofort begreifen, was ich meine. Sie ist wirklich eigenartig.«
Meine Mutter trank einen Schluck Wein. »Neu wo hinzuziehen, ist oft schwierig. Vielleicht weiß sie einfach nicht, wie sie es anstellen soll, neue Freundinnen zu finden …«
»Allerdings!«, entgegnete Kirsten.
»... aber das heißt, es liegt womöglich bei dir, ihr auf halbem Weg entgegenzukommen«, fuhr meine Mutter fort.
»Sie ist
zwölf
«, entgegnete Kirsten, als wäre das in etwa gleichbedeutend mit einer ansteckenden Krankheit oder sonst irgendeiner Katastrophe.
»Wie deine Schwester«, sagte mein Vater.
Kirsten nahm ihre Gabel und deutete damit auf ihn. »Eben«, antwortete sie.
Whitney schnaubte leise. Aber meine Mutter richtete ihre Aufmerksamkeit bereits auf mich. Natürlich. »Vielleicht könntest du dich ja ein wenig um sie bemühen, Annabel«, schlug sie vor. »Sie einfach grüßen, wenn du sie mal wieder siehst, oder etwas in der Art.«
Ich erzählte meiner Mutter nicht, dass ich mit der Neuen längst zu tun gehabt hatte, und zwar vor allem deswegen, weil meine Mutter entsetzt darüber gewesen wäre, wie unfreundlich sie mich behandelt hatte. Was allerdings nichtsan ihren Vorstellungen, was mein Verhalten betraf, geändert hätte. Meine Mutter war berühmt für ihre Manieren und erwartete die gleiche Höflichkeit von uns, egal unter welchen Umständen. Unser Leben sollte perfekt sein, immer und ausnahmslos. Das galt auch für unser Benehmen und moralischen Werte. »Okay«, sagte ich deshalb. »Mach ich. Vielleicht.«
»Lieb von dir«, antwortete sie. Womit das Thema erledigt war. Hoffte ich.
Doch als Clarke und ich am nächsten Nachmittag ins Schwimmbad kamen, lag das Mädchen bereits wieder dicht neben Kirsten und – auf deren anderer Seite – Molly. Ich versuchte, das zu ignorieren, während wir uns an unserem Stammplatz niederließen, kam aber nicht umhin, irgendwann doch rüberzuschauen. Und, was war? Klar, Kirsten ließ mich nicht aus den Augen. Stand auf, warf mir einen vielsagenden Blick zu, ging zur Snackbar. Die Neue heftete sich an ihre Fersen. Ich wusste, was nun von mir erwartet wurde.
»Bin gleich wieder da«, sagte ich zu Clarke, die einen Stephen-King-Thriller las und sich die Nase putzte.
»Okay«, meinte sie.
Ich stand auf und nahm die Route um den Sprungturm herum. Als ich an Chris Pennington vorbeikam, verschränkte ich die Arme über der Brust. Er hatte seine Augen mit einem Handtuch bedeckt und fläzte sich in seinem Liegestuhl, während ein paar seiner Kumpel am Beckenrand miteinander rangen. Super. Nur weil meine Mutter darauf bestand, uns zu perfekten guten Samariterinnen zu erziehen, musste ich mich wieder anmachen lassen, anstatt das zu tun, was ich an jenen Sommerferien-Schwimmbadnachmittagen gewöhnlich tat: Chris Pennington beobachten– still und heimlich, versteht sich. Das war, abgesehen vom Schwimmen und beim Kartenspielen Verlieren, meine Hauptaktivität.
Ich hätte Kirsten erzählen können, dass ich mit der Neuen schon mal zusammengerasselt war, ließ es aber lieber bleiben. Denn anders als ich schreckte sie vor Konfrontationen nicht zurück, im Gegenteil, sie steuerte zielstrebig auf solche Situationen zu und nahm dann prompt das Heft in die Hand. Sie war das Pulverfass unserer Familie; ich kann mich nicht erinnern, wie viele Male ich peinlich berührt und rot wie eine Tomate Zeugin gewesen war, während Kirsten Verkäuferinnen, Autofahrern oder diversen Exfreunden gegenüber klar und deutlich ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck brachte. Ich liebte sie, aber – um ehrlich zu sein – sie machte mich nervös.
Whitney war das genaue Gegenteil: Sie kochte innerlich. Ließ ihre Wut nie raus. Man merkte es
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