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Justiz

Justiz

Titel: Justiz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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unserer Stadt wurden die unsinnigsten Gerüchte ausgebrütet, die ich allzulange nicht wahrnahm. Ich war zu sehr mit meiner Lage beschäftigt. Meine Klienten begannen sich abzusetzen, die Reise nach Caracas zerschlug sich, die lukrative Scheidung fiel ins Wasser, beim Steueramt fand ich keinen Glauben. Der hoffnungsvolle Neubeginn sah auf einmal hoffnungslos aus, der Vorschuß Kohlers war aufgebraucht, ich kam mir vor, als wäre ich bei einem Marathonlauf wie ein 100-Meter-Läufer gestartet, nun lag endlos die Strecke zur rentierenden Anwaltspraxis vor mir. Ilse Freude sah sich nach einem neuen Arbeitsplatz um. Ich stellte sie zur Rede.
    Sie saß im Vorzimmer hinter dem Schreibtisch, hatte einen kleinen Spiegel auf die Tastatur gestellt und schminkte die Lippen karminrot.
    Ihr Haar, das gestern strohblond gewesen war, war schwarz mit einem Stich ins Blaue, das grünlich wirkte. Es war fünf Minuten nach sechs.
    »Sie spionieren mir nach, Herr Doktor!« reklamierte Ilse Freude und schminkte sich weiter.
    »Wenn Sie derart laut mit der Stellenvermittlung telefonieren«, verteidigte ich mich.
    »Sondieren darf man wohl noch«, meinte sie, nachdem sie sich geschminkt hatte, »aber ich lasse Sie nicht im Stich, jetzt wo die Riesenarbeit auf uns zukommt.«
    »Welche Riesenarbeit?« fragte ich verwundert.
    Ilse Freude gab vorerst keine Antwort, stellte ihre prallvolle Umhängetasche auf den Schreibtisch, warf den Spiegel und den Schminkstift achtlos hinein.
    »Herr Doktor«, erklärte sie. »Sie sehen zwar harmlos aus, viel zu gutmütig für einen Rechtsanwalt, Rechtsanwälte haben anders auszusehen. Ich kenne die Rechtsanwälte, entweder sehen sie vertrauenerweckend aus oder künstlerisch, wie Pianisten, nur ohne Frack, aber Sie, Herr Doktor …«
    »Worauf wollen Sie hinaus?« unterbrach ich sie ungeduldig.
    »Ich will darauf hinaus, daß Sie ein gerissener Hund sind, Herr Doktor. Sie sehen nicht aus wie ein Rechtsanwalt und sind doch einer. Sie wollen auch den unschuldigen Kantonsrat aus dem 101
    Zuchthaus befreien.«
    »Was soll der Unsinn, Ilse?« staunte ich.
    »Wozu haben Sie denn sonst einen Scheck von fünfzehntausend Franken vom Kantonsrat Kohler erhalten?«
    Ich war perplex. »Woher wissen Sie das?« herrschte ich sie an.
    »Hin und wieder muß ich schließlich Ihren Schreibtisch aufräumen«, fauchte sie zurück, »bei Ihrem Durcheinander. Und jetzt werden Sie noch grob.«
    Sie wischte sich die Augen. »Aber Sie werden's schaffen. Sie holen den guten Kantonsrat raus. Ich bleibe bei Ihnen! Wie eine Klette!
    Wir beide schaffen das, Herr Doktor!«
    »Sie glauben, der alte Kohler sei unschuldig?« fragte ich bestürzt.
    Ilse Freude erhob sich graziös, trotz ihrer respektablen Fülle, hing sich die Tasche um.
    »Das weiß doch die ganze Stadt«, sagte sie. »Und auch wer der Mörder ist.«
    »Da bin ich aber gespannt«, sagte ich und fröstelte plötzlich.
    »Doktor Benno«, erklärte Ilse. »Der war schweizerischer Meister im Pistolenschießen. Das steht in allen Zeitungen.«
    Später aß ich mit Mock im ›Du Théâtre‹. Er hatte mich eingeladen, eine Seltenheit für den alten Geizkragen. Ich nahm die Einladung an, obgleich ich wußte, daß Mock nur einlud, wenn er sicher war, eine Absage zu erhalten. Aber ich war neugierig darauf, ob es stimme, daß Mock seit der Ermordung Winters nun an dessen Tisch zu speisen pflegte. Es stimmte. Zu meiner Überraschung begrüßte mich Mock freudig, doch kaum hatte ich Platz genommen, setzte sich der Kommandant zu uns, das erste Mal, daß ich ihn kennenlernte, auch stellte sich heraus, daß er gekommen war, um mich kennenzulernen, überhaupt das Treffen organisiert hatte und der Gastgeber war und am Schluß denn auch alles bezahlte. Mock war nur der Köder gewesen. Der Kommandant bestellte Leberknödelsuppe, Tournedos Rossini mit Rösti und Bohnen und eine Flasche Chambertin, Winter zu Ehren, wie er sagte, der sei zwar ein fürchterlicher Schwätzer gewesen, aber ein herrlicher Fresser. Es sei stets eine Freude gewesen, ihm dabei zuzuschauen. Ich machte mit. Mock wählte vom Wagen Rindsbraten mit Kartoffelpüree. Das Mahl hatte etwas 102
    Makabres. Wir aßen schweigend, so daß es eigentlich überflüssig war, daß Mock seinen Hörapparat neben seinen Teller gelegt hatte, um ungestört essen zu können. Dann bestellte der Kommandant eine Mousse au chocolat, und ich erzählte ihm mein Gespräch mit Ilse Freude.
    »Sie wissen nicht, Spät, wie recht Ihr Unikum von einer

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