Justiz
gemäßigtem Tempo vor sich, bei einer Kreuzung schrie mir ein Polizist zu, ob ich meinen Wagen durch die Stadt schieben wolle. Ich fühlte mich wieder einmal ausgespielt.
Privatdetektiv Lienhard noch einmal mit einer Recherche zu 21
beauftragen war unmöglich, er kostete zuviel und war nun, wie die Dinge standen, wohl auch nicht mehr interessiert, wer schneidet sich gern ins eigene Fleisch. So blieb nichts anderes übrig, als es mit Hélène selbst zu versuchen. Ich rief an. Ausgegangen. »In der Stadt.«
Ich gehe aufs Geratewohl los, zu Fuß, denke, die Restaurants abzuklopfen oder die Buchhandlungen, da treffe ich sie, laufe gerade auf sie zu, nur daß sie mit Stüssi-Leupin dasitzt, vor dem ›Select‹, bei einem Capuccino. Ich sah die beiden erst im letzten Augenblick, stand schon vor ihnen, verwirrt, weil ich nur sie gesucht hatte, und wütend, weil Stüssi-Leupin bei ihr saß, aber was tat es schon, die beiden lagen wohl schon längst im Bett beieinander, das Töchterlein eines Mörders und der Retter ihres Vaters, sie einst meine Geliebte, er einst mein Chef.
»Gestatten, Fräulein Kohler«, sagte ich, »ich möchte Sie einen Augenblick sprechen. Allein.«
Stüssi-Leupin bot ihr eine Zigarette an, steckte sich auch eine in den Mund, gab Feuer.
»Ist es dir recht, Hélène?« fragte er sie. Ich hätte den Staradvokaten niederschlagen können.
»Nein«, antwortete sie, ohne mich anzusehen, nur daß sie die Zigarette niederlegte. »Aber er mag reden.«
»Gut«, sagte ich, zog einen Stuhl herbei, bestellte einen Espresso.
»Was wollen Sie nun, mein verehrtes Justizgenie?« fragte Stüssi-Leupin gemütlich.
»Fräulein Kohler«, sagte ich, kaum daß ich meine Aufregung verbergen konnte, »ich habe Ihnen eine Frage zu stellen.«
»Bitte.« Sie rauchte wieder.
»Stellen Sie«, meinte Stüssi-Leupin.
»Als Ihr Vater den englischen Minister zum Flugzeug gebracht hat, sind Sie damals noch Stewardeß gewesen?«
»Gewiß.«
»Auch in der Maschine, die den Minister nach England zurückgeflogen hat?«
Sie drückte ihre Zigarette aus.
»Möglich«, sagte sie.
»Danke, Fräulein Kohler«, sagte ich und erhob mich, grüßte, ließ 22
den Espresso stehen und ging. Ich wußte nun, wie die Waffe verschwinden konnte. Es war alles so einfach. Zum Lachen. Der Alte hatte sie dem Minister in die Manteltasche geschoben, als er neben ihm im Rolls-Royce saß, und seine Tochter Hélène hatte den Revolver im Flugzeug aus der Manteltasche geholt. Das konnte sie ja leicht als Stewardeß. Aber wie ich es nun wußte, wurde ich leer und müde, bummelte den Quai entlang, endlos, den blödsinnigen See mit seinen Schwänen und Segelbooten zur Rechten. Stimmte meine Überlegung – und sie mußte stimmen –, war Hélène Mitwisserin.
Schuldig wie ihr Vater. Dann hatte sie mich im Stich gelassen, dann mußte sie wissen, daß ich recht hatte, dann hatte ihr Vater schon gewonnen. Er war stärker gewesen als ich. Ein Kampf mit Hélène war sinnlos, weil sie sich schon entschieden hatte, weil er schon entschieden war. Ich konnte sie nicht zwingen, ihren Vater zu verraten. Woran sollte ich denn bei ihr appellieren? An die Ideale?
An welche? An die Wahrheit? Die hatte sie verschwiegen. An die Liebe? Sie hatte mich verraten. An die Gerechtigkeit? Dann würde sie mich fragen: Für wen? Für eine lokale Geistesgröße? Asche ist zufrieden. Für einen windelweichen, verlogenen Schürzenjäger? Der ist auch kremiert. Für mich? Nicht der Mühe wert. Die Gerechtigkeit ist keine Privatsache. Und dann würde sie mich fragen: Wozu Gerechtigkeit? Für unsere Gesellschaft? Nur ein Skandal mehr, nur Redestoff, übermorgen längst eine andere Tagesordnung. Resultat der Denkübung: Der Nutzwert der Gerechtigkeit wog für Hélène ihren Papa nicht auf. Für einen Juristen eine lähmende Erleuchtung.
Sollte ich noch den Lieben Gott ins Spiel bringen? Ein sicher sehr freundlicher, doch ziemlich unbekannter Herr mit ungesicherter Existenz. Und dann: Was hat der Mann alles zu tun! (Durchmesser des Universums nach de Sitter – veraltet, viel zu bescheiden gerechnet – in Zentimetern: eine Eins mit achtundzwanzig Nullen.) Aber es galt durchzuhalten, sich aufzurappeln, die Philosophie hinunterzuwürgen, den Kampf gegen die Gesellschaft, gegen Kohler, gegen Stüssi-Leupin weiterzuführen und den gegen Hélène aufzunehmen. Denken ist ein nihilistischer Zug, stellt die Werte in Frage, und so wandte ich mich denn wieder rüstig dem tätigen Leben zu,
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