Juwel meines Herzens
Messer durchbohrt.
Weil ihr bewusst war, dass es dumm wirken würde, wenn sie unvermittelt umdrehte, ging sie trotzdem auf den Fremden zu. Um ihren Gemütszustand zu überdecken, reckte sie das Kinn leicht nach oben. Ihr zur Schau getragenes falsches Selbstvertrauen zog seinen Blick an. Was sie darin entdeckte, überraschte sie.
Er war ungewöhnlich gutaussehend. Leuchtend blaue Augen wurden von samtschwarzen Brauen umrahmt. Seine vollen Lippen ließen den starken Kiefer weicher erscheinen und machten seine kräftigen Gesichtszüge beinah schön. Jewel musterte ihn starr von Kopf bis Fuß. Er war groß, schlank und muskulös bis hin zu seinen straffen Waden. Ein Eindruck, der durch die knielangen Stiefelhosen noch verstärkt wurde. Als ihre Augen zu seinem Gesicht zurückwanderten, hatte er, wohl wegen der offensichtlichen Bewunderung, eine finstere Miene aufgesetzt.
Wie ein kalter Windstoß, der vom Meer heraufwehte, traf sie die Erkenntnis, ihn schon einmal gesehen zu haben. Ihre verzweifelten Wünsche waren erhört worden – wenn auch nicht von ihrem Vater, sondern von dem Mann, der ihn bei seinem einzigen schicksalhaften Besuch vor so langer Zeit begleitet hatte. Mit unverhohlener Intensität starrte ihn Jewel an, unsicher, ob sie ihren Augen glauben sollte oder nicht. Sie versuchte, sich an das Gesicht des Mannes zu erinnern – es wirkte vertraut und fremd zugleich. Dann kam ihr ein Name in den Sinn.
»Nolan?« Es hörte sich richtig an.
Sein kurzes Nicken bestätigte ihre Erinnerung, auch wenn er distanziert blieb. Es schien, dass er sich nicht so wie sie über ihr Wiedersehen freute. Trotzdem atmete Jewel erleichtert auf. Das Schicksal war eingeschritten. Nicht nur, dass ihr Vater endlich zurück zu sein schien – auch der Zeitpunkt war entscheidend. Vielleicht wartete er bereits draußen vor der Taverne? Sie warf einen Blick über Nolans Schulter durch die Tür auf die geschäftige Straße hinaus, doch noch ehe sie sprechen konnte, wurde sie von ihm am Arm gepackt und an einen langen Tisch geführt, der in einigem Abstand zu den anderen stand.
Er legte seinen Dreispitz auf eine saubere Stelle zwischen mehrere leere Krüge und aufgetürmte Teller, in denen kalter Eintopf bereits angetrocknet war. Mit einer Bemerkung über die hektische Mittagsstunde auf den Lippen griff Jewel nach dem schmutzigen Geschirr, doch das Sprechen fiel ihr schwer. Immerhin stand plötzlich ein langgehegter Traum leibhaftig vor ihr.
Sie widerstand dem Drang, einen Blick auf Payne zu werfen. Die Tatsache, dass er sich nicht wie der Schurke im Märchen in Luft aufgelöst hatte, sobald der Fluch gebannt war, musste nicht zwangsläufig bedeuten, dass ihr Vater nicht auf einem Schiff im nahe gelegenen Hafen auf sie wartete.
Nolan schob die Teller und einen halben Laib Brot zur Seite und bedeutete ihr, sich zu setzen. Sein strenger Blick lud nicht gerade zur Unterhaltung ein. Trotz seiner gebieterischen Haltung fiel ihr auf, dass er höflich stehen blieb, bis sie ihm gegenüber auf der Bank Platz genommen hatte. Mit geradem Rücken breitete sie ihre alegetränkten grauen Röcke aus, als wären sie aus voluminöser, pastellfarbener Seide. Nolan wusste, dass sie nicht nur ein einfaches Schankmädchen ohne Rang und Namen war, sondern auch die Tochter eines berüchtigten Piraten und nicht zuletzt die Frau, die den Schlüssel zu dem mysteriösen Schatz verwahrte.
Er setzte sich rittlings auf die polierte Eichenbank und zog seine Handschuhe aus. »Wie ich sehe, erinnerst du –«
»O ja, ich erinnere mich gut!« Seine betont förmliche Art zerrte an Jewels Nerven. Ein Herzflattern, dem Gefühl der Angst nicht unähnlich, ließ sie die Lippen aufeinanderpressen, wodurch sie hoffte, ihr Zittern vor ihm verbergen zu können. »Ich habe keiner Menschenseele von dieser Nacht erzählt. Ich glaubte schon fast, ich hätte sie nur geträumt.«
Auf der Suche nach etwas Vertrautem studierte sie Nolans Züge, aber vergeblich. Hätte er sie nicht so finster angesehen, hätte sie ihn überhaupt nicht wiedererkannt. Von dem seltsamen jungen Burschen, der ihren Vater in der Nacht, in der sie die Schatzkarte zum Aufbewahren bekommen hatte, herausgefordert hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Damals hatte sie gedacht, er sei nicht viel älter als sie selbst, jetzt aber wirkte er wie ein erwachsener Mann, viel älter als Jewel. Plötzlich war er mehr Feind als Freund.
Als sie Nolans blaue Augen und seinen ausdrucksstarken Kiefer
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