K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
entschieden hatten – aus Gründen, die niemals geklärt werden sollten –, weshalb richteten sie sich dann in dem Teil ihres Lebens ein, der im Untergrund angesiedelt war und nicht an der legalen Oberfläche? Es leuchtete K. nicht ein. Sie hatten heimlich geheiratet, als handele es sich um ein Verbrechen, etwas Obszönes oder gar eine Konspiration; vielleicht hatte sein geliebtes Töchterlein Angst, ihn zu verärgern durch das Eingeständnis, einen goy, einen Mann aus einer nichtjüdischen Familie, geehelicht zu haben.
Doch K. war ein liberaler Geist. Seine Generation hatte sich gegen die Religion aufgelehnt. Es war die Generation der Aufklärung. Obwohl er bis in sein tiefstes Inneres Jude war, hatte er diese Art der Diskriminierung niemals geäußert. Denn hatte sein mittlerer Sohn nicht sogar eine Japanerin geheiratet? Und hatte sein eigener älterer Bruder in zweiter Ehe nicht eine Portugiesin geheiratet? Und einige seiner Neffen waren ebenfalls mit nichtjüdischen Frauen verheiratet. Und er hatte für alle immer die gleiche Zuneigung empfunden.
Trotzdem konnte es seiner Tochter an Mut gemangelt haben, ihm ihre Heirat mit einem goy zu offenbaren; sie wäre in der Tat die erste Frau in der Familie gewesen, die einen Nichtjuden gewählt hatte. Denn seitens der Familie seines Schwiegersohns waren ja alle über die Eheschließung im Bilde und machten davon kein Aufhebens.
Seine Tochter hatte der anderen Familie vertraut, nicht ihm. Für die andere Familie war die Heirat kein Geheimnis gewesen, lediglich eine diskrete Angelegenheit. Darin lag ein umfassenderer Sinn, hatte sie etwa die Wahl einer neuen Familie damit signalisieren wollen? Dieser Gedanke schmerzte ihn. War es womöglich die Retourkutsche für seine zweite Ehe mit dieser Deutschen, die bei seiner Tochter auf totale Ablehnung gestoßen war? Oder für seine intensive Hingabe an die jiddische Sprache? An eine Sprache, die weder sie noch ihre Brüder sprechen konnten – was übrigens seine Schuld war, denn er hatte sich nie darum bemüht, sie ihnen beizubringen.
Diese Möglichkeit fügte seiner Schuld eine weitere hinzu.
Doch nichts von all dem erklärte die Tatsache, dass die beiden klammheimlich geheiratet hatten, überlegte er von neuem. Eine verborgene Ehe ist ein Widerspruch, ein Widersinn, denn die Funktion der Ehe besteht ja genau darin, die Gründung einer neuen Familie, den veränderten Fa milienstand zweier junger Menschen, publik zu machen. Deshalb gehen Hochzeitsfeste mit so viel Pomp einher. Wenn es nicht darum geht, es allen mitzuteilen, ist eine Heirat nicht erforderlich, es genügt, zusammenzuleben. Er konnte es nicht begreifen.
Vielleicht lag die Erklärung ja in dem Ehevertrag, den K. fand. Der Vertrag beinhaltete die vollständige Gütertrennung der beiden. Seltsam, diese Sorge um das Materielle bei einem revolutionären Ehepaar. Außerdem hatten sie geheiratet, indem sie bereits die Trennung vorsahen, denn sonst wäre ja der Vertrag nicht nötig gewesen.
Vielleicht ahnten sie, dass sie zwangsläufig getrennt würden, falls einer von ihnen in die Fänge der Sicherheitskräfte geriet? Das wäre möglich. Es machte Sinn. Nicht, dass sie wertvolle Güter besessen hätten. Ein paar Ersparnisse und den VW Käfer, das war alles. Und die Bücher natürlich. Viele Bücher. Nach langem Überlegen kam K. zu dem Schluss, dass der einzige Grund für eine formelle Heirat mit der Risikosituation, in der sie lebten, zusammenhängen musste, es ging darum, die Gefahr, in der jeder von ihnen schwebte, zu verringern. Und wie? Indem sie eine gültige Heiratsurkunde vorzuweisen hatten. Das war die Voraussetzung, um Mietverträge abzuschließen, ohne Misstrauen zu wecken, in Hotels abzusteigen, ohne aufzufallen, sich im Notfall in Herbergen einzuquartieren, ohne dass es jemandem anrüchig erschien. Falls erforderlich, hätten sie Pässe beantragen und als Mann und Frau zusammen ins Ausland reisen können, sich aus dem Staub machen, ohne Aufsehen zu erregen. Sich vorzustellen, dass sie all das hätten tun können, es aber nicht getan hatten – das war es, was am meisten schmerzte.
Brief an eine Freundin
Meine Liebe,
gestern habe ich mir nochmals den »Würgeengel« von Buñuel angesehen, den wir zusammen in den guten Zeiten des Cinema Bijou gesehen haben. Erinnerst du dich? Ich habe beschlossen, dir zu schreiben. Es ist lange her, dass ich im Kino war. Ich habe meine Höhle kaum verlassen. Ich, die ich so gern ins Kino gehe, bin zur Einsiedlerin
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