Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Transit
Vom Netzwerk:
längerem klagte sie darüber, aber die Mutter hatte dem keine Bedeutung beigemessen.
    Eines Tages stieg sie in den falschen Bus und musste acht Querstraßen zurücklaufen. Sie hatte die Richtung Vila Diva mit Vila Paiva verwechselt. Zutiefst erschrocken, ging der Vater endlich mit ihr zum Augenarzt, der eine Kurzsichtigkeit von zwei Dioptrien auf dem rechten und einer Dioptrie auf dem linken Auge feststellte.
    Das Mädchen bat die Mutter, sie zum Optiker zu begleiten und bei der Auswahl eines Brillengestells, das zu ihrem langen, feinen Gesicht passte, zu helfen. Aber die Mutter war müde und hatte Migräne. Immer diese Migräne. Geh mit deinem Vater, sagte sie.
    Seit man ihr wegen eines Mammakarzinoms die rechte Brust abgenommen hatte, ging die Mutter kaum noch aus dem Haus. Vorher hatte sie oft ihre Freundinnen besucht, voller Stolz auf ihre elegante Erscheinung, ihr gebräuntes, gleichmäßiges Gesicht mit der markanten, wohlgeformten Nase, ihr dunkles Lockenhaar.
    Inzwischen ging sie nur noch manchmal am Freitag weg, kaschierte die flache Brust mit einem Polster, doch sie stattete niemandem einen Besuch ab. Sie fuhr nach Bom Retiro, um anonym ein Stück Halva, ein Roggenbrot und einen Räucherhering zu kaufen. Zwar war sie noch immer schön und elegant, aber wegen der Chemotherapie hatte sie die Haare verloren.
    Während sie ihre Tochter erwartete, das dritte Kind nach zwei Söhnen, war sie bereits zu einer traurigen Frau geworden; die Abordnung, die von der jüdischen Gemeinde in São Paulo ausgesandt worden war, um die erschreckenden Gerüchte über das, was in Polen passiert war, zu überprüfen, war zurückgekehrt und hatte das Schlimmste bestätigt. Ihre Familie sowie der größte Teil der Juden in Wloclawek war ausgerottet worden. Alle. Ihre Eltern, die Geschwister, Onkel und Tanten, Neffen und Nichten. Das war der Grund, weshalb kurz nach dem Einmarsch der Deutschen keine Briefe mehr kamen, nicht die kriegsbedingten Blockaden. Nicht einmal ihr Cousin Moses war davongekommen, obwohl er nach Frankreich gegangen war. Die Abordnung bestätigte auch die Deportation und Vernichtung der französischen Juden. Kurz nach Erhalt dieser Nachricht war sie an Brustkrebs erkrankt.
    Beim Optiker wählte der Vater ein robustes, preiswertes Brillengestell aus. Nicht aus Knauserigkeit. Oder weil ihm seine Tochter nicht wichtig war – sie war sein Lieblingskind, »mayn tayer tekhterl«, mein teures Töchterlein, so nannte er sie bei seinen Freunden im Lesekreis –, sondern, weil er kein Vertrauen zu diesen extrem dünnen italienischen Fassungen hatte. Eine Brille war dazu da, einen Sehfehler auszugleichen. Sie hatte widerstandsfähig zu sein, durfte nicht bei jeder Unvorsichtigkeit zerbrechen.
    Seine Vernarrtheit in das Nesthäkchen trübte seine Wahrnehmung, denn sie war von Natur aus nicht besonders hübsch. Jedesmal, wenn er sie am Tor des Gymnasiums abholte, fragte er ihre Mitschülerinnen: Habt ihr dieses blonde Mädchen gesehen, die Klassenschönste?
    Die Mitschülerinnen lächelten mitleidig. Seine Tochter hatte ausgeprägte Gesichtszüge, schmale Lippen und glatt herunterhängende, strohgelbe Haare. Sie war groß und dünn. Die Klügste in der Klasse, ohne Zweifel, und alle mochten sie auch sehr wegen ihrer Sensibilität und ihrer Kameradschaft. Doch ihr ganz besonderer Zauber kam von innen, von ihrem Wesen, nicht von einer puppenhaften Schönheit. Ihr gesamter Ausdruck konzentrierte sich in ihren traurigen blauen Augen, sie zeugten von einem reichen, unruhigen Innenleben.
    Egal welche Brille sie getragen hätte, für ihren Vater war sie das hübscheste Mädchen der ganzen Schule. Eine engelsgleiche Anmut, pflegte er zu sagen. Außerdem hatte K. nicht viel Zeit. Er hatte den Teilhaber seines Ladens allein gelassen und es war Monatsanfang, wo immer am meisten los war.
    Als er nach Hause kam, klagte die Mutter immer noch über Kopfschmerzen.
    »Du siehst ja furchtbar aus«, entfuhr es ihr, als sie ihre Tochter mit der Brille sah. »Jetzt ist nichts mehr zu machen.«
    Die Tochter sagte nichts, verzog keine Miene, obwohl ein geübter Beobachter vielleicht ein flüchtiges Zucken in ihrem Gesicht wahrgenommen hätte. Sie tat, als ob sie es nicht gehört hätte.

    Die heimliche Eheschließung
    Als diese junge Frau zum Treffen der Familienangehörigen verschwundener Personen erschien und sich vorstellte – ich bin die Schwägerin Ihrer Tochter –, wurde K. sich der Tragweite jenes anderen, jenes geheimen Lebens seiner

Weitere Kostenlose Bücher