K. oder Die verschwundene Tochter - Roman
Tochter bewusst. Sie hatte sogar geheiratet, ohne dass er davon wusste; sie hatte einen Mann, eine Schwägerin, Schwiegereltern. Ihr Ehemann war ebenfalls verschwunden. Nun auch noch diese Botschaft in der langen Kette der Schrecken, die Entdeckung, dass eine andere Familie ebenfalls ihre Abwesenheit betrauerte, nicht als Tochter, sondern als Schwiegertochter, und auch er müsste jetzt den Verlust eines weiteren Verschwundenen beklagen, den des Schwiegersohns, mehr noch, den von Enkelkindern, die er hätte haben können, aber nicht mehr haben würde – obwohl das in diesem Augenblick für ihn noch nicht ersichtlich war.
Er beschloss also, diese unerwartete Welt, die seine Tochter sich aufgebaut und ihm verheimlicht hatte, zu erforschen, er fieberte danach, mehr zu erfahren, ihr soziales Umfeld kennen zu lernen, sich mit den Freunden auszutauschen, die sie vielleicht gewonnen hatte in jener todlangweiligen Stadt im Landesinneren, er wollte seine makhetonim kennen lernen. Sicher hatte sie so manchen Sonntag mit ihnen verbracht.
Er erfuhr, dass der Mann seiner Tochter, dieser Schwiegersohn, den er nie kennen gelernt hatte, schon in jungen Jahren völlig verbissen auf politische Themen reagiert hatte. Er sah seine Bücher, eine ganze Bibliothek revolutionären Gedankenguts. Von einem Vetter des Schwiegersohns, einer Art Faktotum des jungen Paars, der von daher auch Dinge wusste, die den anderen Familienmitgliedern nicht bekannt waren, erfuhr er, dass die beiden im Untergrund kämpften, auch wenn sie ein legales Leben führten. Der Schwiegersohn gehörte der Führungsspitze einer dieser Organisationen an, verriet ihm besagter Vetter. K. fragte sich, was im Endeffekt dazu geführt hatte, dass die beiden zueinander fanden. Hatten sie sich über die politische Aktion schätzen gelernt oder hatten sie sich zuerst ineinander verliebt und waren danach, im Verlauf ihrer illegalen Tätigkeit, diese Verbindung eingegangen?
Aber die Frage, die ihm am meisten zu schaffen machte, war, ob seine Tochter hätte davonkommen können, wenn ihr Ehemann kein Revolutionär gewesen wäre. Ein moralisches Dilemma: sollte er ihn hassen, weil er seiner Tochter einen absurden Tod beschert hatte, oder ihn ehren, weil er ihr Leben bereichert hatte?
Und inwieweit hatte er sie de facto in den Untergrundkampf hineingezogen oder, im Gegenteil, versucht, sie zu schützen, sie auf die Risiken hinzuweisen, sie fernzuhalten, und sie hatte sich vielleicht geweigert, ihn in diesem gefährlichen Kampf allein zu lassen? Auf diese Fragen wird es nie eine Antwort geben. Man wird auch nicht genau erfahren, selbst Jahrzehnte später nicht, wie sie entführt und umgebracht worden waren. In diesem Augenblick kam K. zu dem Schluss, dass diese Fragen unnütz waren. Wenn sie zusammen lebten, hatte es für ihn keine Möglichkeit gegeben, sie vor den Gefahren zu schützen.
Zu welchem Zeitpunkt hatte seine Tochter angefangen, sich politisch zu engagieren? Und auf welche Art und Weise? Ob es nach und nach passiert war, quasi als gedankenlose Folge des gemeinsamen Ehelebens, oder hatten sie vorher ausgiebig darüber diskutiert? Die Entdeckung ihrer politischen Militanz überraschte ihn, wenn diese auch zur Familientradition gehörte; er hatte sie immer als sein sensibles Töchterlein gesehen, das Gedichte las, das gern ins Kino ging und nicht viel für Politik übrig hatte. Doch nachdem sich nun auf tragische Weise offenbart hatte, dass sie durch und durch seine Tochter war, verstand er die Gründe der Heimlichtuerei. Es ging um elementare Sicherheitsvorkehrungen. Er war ähnlich vorgegangen in der Zeit seiner Untergrundtätigkeit in Polen. Es ging nicht bloß um ihre Sicherheit und die ihres Mannes, sondern auch und vor allem um seine, die ihres Vaters, und um die ihrer Brüder.
Was er nicht verstehen konnte, war diese geheime Eheschließung.
Fand dieses Versteckspiel etwa aus bloßer Gewohnheit statt? Es ergab keinen Sinn. Angefangen bei der Tatsache, dass sie ja nicht heiraten mussten, sie hätten doch einfach zusammenleben können. Wieso die formelle Urkunde? Wieso eine Ehe schließen und sie gleichzeitig verbergen?
Die beiden hatten eine bürgerliche Existenz geführt, hatten feste Arbeitsverträge, gültige Papiere, ein Bankkonto und ein Sparbuch, und gleichzeitig engagierten sie sich politisch jenseits der Legalität, besaßen Decknamen und Adressen, wo sie sich und Dokumente des Widerstands verstecken konnten.
Und da sie sich für eine formelle Heirat
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