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K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

K. oder Die verschwundene Tochter - Roman

Titel: K. oder Die verschwundene Tochter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Transit
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geworden. Von der Chemischen Fakultät geht es direkt nach Hause. Ich vermeide es, Kontakt mit Freunden aufzunehmen. Es bleibt nur das Mittagessen in der Mensa der Biologie. Bei längeren Feiertagen fahren wir weit weg, aus São Paulo hinaus, dorthin, wo niemand uns kennt. Wir haben drei Tage in Poços de Caldas verbracht. Ich erinnerte mich wieder daran, wie wir zwei damals nach Parati gefahren sind. Manchmal frage ich mich: Wozu das alles? Ich weiß nicht, ob es Paranoia ist, aber ich fühle mich umgeben von einer Gefahr. Jeden Tag wird jemand auf dem Campus verhaftet. Ich muss dir nicht erzählen, was in letzter Zeit immer wieder passiert ist. Das Klima ist sehr bedrückend. Wie dieser Situation entkommen? Ich weiß nicht, wie ich ihr entkommen soll, ich weiß nur, dass unsere Sache früher einen Sinn hatte, heute hat sie ihn verloren; und das führt mich wieder zu dem Film von Buñuel, all diese Leute, die das Haus verlassen können und gleichzeitig zurückgehalten werden, ohne einen Grund, eine rationale Erklärung. Sie bleiben dort gefangen, in einem imaginären Gefängnis, und verrohen zusehends. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Film einmal von solcher Bedeutung für mich sein könnte. Ich habe mich gefragt, was für eine Situation Buñuel inspiriert haben mag, ob es das Franco-Regime war, der Katholizismus oder etwas in seinem persönlichen Leben. Wie dem auch sei, es handelt sich um eine großartige Studie über das, was die Menschen dazu bringt, das zu tun, was sie tun, eine bestimmte, ausweglose Richtung einzuschlagen und nicht die Kraft zur Umkehr zu haben. Genau das passiert mit mir. Ich wünschte mir so sehr, dass du hier wärst, um mit dir darüber zu sprechen. Bei der Arbeit schwindet mir der Boden unter den Füßen, ich kann mich nicht mehr zusammen mit den Kollegen, mit Ausnahme von Celina und Vera, freuen. Erst recht nicht mit den Männern, die können mir alle gestohlen bleiben, ich ertrage sie nicht. Die reinsten Schlappschwänze, wie du immer gesagt hast. Alle tun so, als ob das Leben normal weitergeht, alle benehmen sich so, als ob sich nichts ereignete. Meine einzige Freude, abgesehen von meiner Liebe, von der ich dir ja schon erzählt habe, ist eine junge Hündin, die er mir geschenkt hat, ganz süß, wir behandeln sie wie ein Kind, jede Woche wird sie gebadet und kriegt das Fell gewaschen, jeden Nachmittag gehen wir mit ihr in den Park. Sie heißt Baleia. Eine Hommage an den Hund im Roman von Graciliano Ramos, klar. Aber sie ist kein Straßenköter, sie hat einen Stammbaum mit allem Drum und Dran. Ich habe sogar Angst, mit ihr Gassi zu gehen, doch wie sollte ich ihr das streitig machen? Baleia würde dir gefallen, sie ist ein weißer Pudel, ganz flauschig. Hast du etwas von deinem Bruder gehört? Meiner spricht seit einem Jahr nicht mehr mit mir. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Diese Leute, die in den kibutsim gearbeitet haben und zurückgekommen sind, scheinen alle eine Meise zu haben. Seit mein Bruder sich für einen Journalisten hält, findet er sich ganz toll und denkt, das bietet ihm ausreichend Schutz. Bloß gut, dass er in ein paar Monaten nach England geht. Ich drücke die Daumen, dass er so schnell wie möglich abreist. Ich habe das Gefühl, dass die Lage hier sich enorm verschlechtern wird. Meinen Vater treffe ich nur noch einmal in der Woche oder nur jede zweite Woche. Nachdem er wieder geheiratet hat, zeigt er sich mir gegenüber liebevoller, versucht, nett zu sein; ich glaube, er hat das Bedürfnis, sich an mich zu klammern, schließlich bin ich die kleine Tochter in dieser Familie, die er gegründet hat und die es nicht mehr gibt. Gleichzeitig widmet er sich zunehmend seinen Schriftsteller-Freunden. Vermutlich aus dem gleichen Grund. Die Familie hat sich aufgelöst, und für ihn bleibt jetzt einzig und allein die jiddische Sprache. Er flüchtet sich in das Jiddische. Kannst du dir vorstellen, dass sie sich regelmäßig jede Woche treffen? Da ist diese Rosa Palatnik, die er behandelt wie eine Königin und die extra aus Rio anreist; eine andere, die ab und zu aus Rio kommt, ist diese Clara Steinberg. Vielleicht hast du von ihnen gehört. Ich weiß nicht, ob es große Schriftstellerinnen sind. Doch wehe, einer unterbricht die Sitzung. Ich weiß nicht, was für eine Stimmung in Rio herrscht, aber was mir hier am meisten zusetzt, ist die Entfremdung der Leute. Ich meine nicht die Schlappschwänze von der Chemischen Fakultät. Ich rede von anderen, die ich schätze. Ich

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