Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
fast so vor, als würde ich nur noch schlecht Luft bekommen.«
Erlendur begleitete ihn zum Ausgang und ließ einen Streifenwagen rufen, der ihn nach Hause bringen sollte. Sie verabschiedeten sich auf der Treppe vor dem Hauptdezernat.
»Leb wohl, Erlendur«, sagte der alte Mann mit der dichten, grauen Mähne. Er war Maurer gewesen, und seine Gesichtsfarbe war ebenso grau wie Mörtelstaub.
»Pass auf dich auf«, sagte Erlendur.
Dann blickte er dem Streifenwagen nach, bis er um die nächste Ecke gebogen war.
Der Seelsorger, zu dem María die meiste Verbindung gehabt hatte, war eine Frau und hieß Eyvör. Sie war nicht für die Grafarvogur-Gemeinde zuständig, sondern für die Nachbargemeinde. Sie war entsetzt und betroffen über Marías Tod und die Tatsache, dass sie keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als sich das Leben zu nehmen.
»Das ist das Schlimmste von allem«, sagte sie zu Erlendur, der ihr am späten Nachmittag in ihrem Büro im Gemeindehaus neben der Kirche gegenübersaß. »Sich vorzustellen, dass sich Menschen in der Blüte ihres Lebens selbst töten, weil ihnen alles ausweglos erscheint. Es gibt doch viele Beispiele, die zeigen, dass es möglich ist, Menschen, die in Bedrängnis und Not geraten sind, zu helfen, wenn man nur früh genug in den Prozess eingreift.«
»Du hast also nicht geahnt, auf was es bei María hinauslaufen könnte?«, fragte Erlendur und dachte über dieses Wort »Prozess« nach, das ihm in dieser Bedeutung schon immer auf die Nerven gegangen war. »Soweit ich weiß, war sie gläubig und ist hier zur Kirche gegangen.«
»Ich wusste, dass es ihr schlecht ging, nachdem sie ihre Mutter verloren hatte«, erklärte Eyvör. »Aber da war absolut nichts, was darauf hindeutete, dass sie eine Verzweiflungstat begehen würde.«
Die Pastorin war um die vierzig, sie trug ein violettes Kostüm und schien auffälligen Modeschmuck aller Art zu lieben: An den Händen hatte sie drei Ringe und um den Hals eine Goldkette, und von den Ohren baumelten große Ohrringe, die farblich auf das Kostüm abgestimmt waren. Sie war etwas erstaunt gewesen, dass die Kriminalpolizei bei ihr wegen eines Gemeindemitglieds, das sich das Leben genommen hatte, vorsprach. Sie erkundigte sich gleich, ob der Fall ganz offziell untersucht würde. »Nein, überhaupt nicht«, antwortete Erlendur und bastelte sich ad hoc eine Erklärung zusammen; ihm ginge es nur darum, das Abschlussprotokoll fertigzustellen. Er hätte erfahren, dass María Verbindung zu ihr als Pastorin gehabt hätte, und wollte sich deshalb gern mit ihr unterhalten, um sich unter Umständen ihre Erfahrung für später zunutze machen zu können. Bei Suiziden war es leider ebenso unvermeidlich wie unangenehm, dass sie von der Kriminalpolizei bearbeitet werden mussten. Ihm ginge es darum, mehr über Ursachen und Auswirkungen in Erfahrung zu bringen, weil ihm das wahrscheinlich bei der weiteren Arbeit helfen könne. Eyvör war angetan von diesem melancholischen Kriminalbeamten. Sie spürte, dass sie ihm vertrauen konnte.
»Hat sie mit dir über den Tod gesprochen?«, fragte Erlendur.
»Das hat sie«, entgegnete Eyvör. »Wegen ihrer Mutter, und ebenso wegen eines Vorfalls in ihrer Kindheit. Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast.«
»Weil ihr Vater damals ertrunken ist?«, fragte Erlendur.
»Ja. María ging es nach dem Verlust ihrer Mutter sehr schlecht. Ich habe sie übrigens ebenfalls beerdigt. Ich habe beide relativ gut kennengelernt, vor allem nachdem Leonóra erkrankt war. Sie war eine unerschrockene Frau, eine erstaunliche Frau, die sich nicht unterkriegen ließ.«
»Was machte sie?«
»Meinst du, was sie gearbeitet hat? Sie war an der Universität, Professorin für Romanistik.«
»Und ihre Tochter war Historikerin«, sagte Erlendur. »Das erklärt die vielen Bücher bei ihnen zu Hause. War María depressiv?«
»Sie war manchmal deprimiert, könnte man sagen. Ich hoffe, dass das hier unter uns bleibt. Eigentlich dürfte ich überhaupt nicht mit dir darüber sprechen. Sie hat nicht direkt mit mir über ihre Trauer gesprochen, doch man spürte, dass es ihr nicht gut ging. Sie kam zur Kirche, aber sie hat sich mir gegenüber nie geöffnet. Ich versuchte, ihr Trost zu spenden, aber das war im Grunde genommen sehr schwierig. Sie war irgendwie verbittert, verbittert darüber, dass ihre Mutter so sterben musste. Dieser Zorn richtete sich gegen die höheren Mächte. Ich glaube fast, dass sie etwas von dem Kinderglauben, den sie sich bewahrt hatte,
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