Kälteschlaf - Indriðason, A: Kälteschlaf - Harðskafi
man mir vielleicht schon das Alter an?«
»Nein, nicht so. Nur irgendwie reifer. Ach, ich habe keine Ahnung, wovon ich rede. Sindri hat gesagt, du würdest dich am Riemen reißen.«
»Was labert der denn für ein bescheuertes Zeug?«
»Stimmt das?«
Eva Lind antwortete nicht gleich. Sie inhalierte tief und behielt den Rauch lange in den Lungen, bevor sie ihn durch die Nase wieder ausblies.
»Meine Freundin ist gestorben«, sagte sie dann. »Ich weiß nicht, ob du dich an sie erinnern kannst.«
»Wer?«
»Sie hieß Hanna. Ihr habt sie hinter den Mülltonnen beim Einkaufszentrum Mjódd gefunden.«
»Hanna?«, fragte Erlendur nachdenklich.
»Sie starb an einer Überdosis.«
»Doch, ich kann mich an sie erinnern. Es ist gar nicht so lange her, oder? Sie war heroinabhängig. Derartige Fälle sehen wir nicht so häufig, jedenfalls bisher noch nicht.«
»Sie war eine gute Freundin von mir.«
»Das wusste ich nicht.«
»Du weißt überhaupt nichts«, erklärte Eva Lind. »Für mich gab es nur zwei Optionen, entweder denselben Weg zu gehen wie sie oder …«
»Oder?«
»Versuchen, etwas dagegen zu tun. Versuchen, aus dieser verdammten Scheiße herauszukommen. Es einmal ernsthaft zu versuchen.«
»Was meinst du damit, denselben Weg zu gehen wie sie? Glaubst du, dass sie absichtlich eine Überdosis genommen hat?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Eva Lind. »Ihr war zum Schluss alles egal. Wirklich alles.«
»Egal?«
»Vollkommen scheißegal.«
»Steckte da nicht noch irgendeine Geschichte dahinter?«, fragte Erlendur. Er konnte sich an die armselige Gestalt eines Mädchens um die zwanzig erinnern, das im vergangenen Winter beim Einkaufszentrum Mjódd mit einer Spritze im Arm aufgefunden worden war. Die Müllmänner hatten sie frühmorgens entdeckt; sie lag mit dem Rücken zur Wand und war erfroren.
»Dass du ständig so reden musst wie ein Professor«, sagte Eva Lind. »Spielt das eine Rolle, verdammt noch mal? Sie ist gestorben. Reicht das nicht? Spielt eine Geschichte dahinter irgendeine Rolle? Spielt es irgendeine Rolle, dass niemand für sie da war? Dass sie keine Hilfe gewollt hat, weil sie sich selbst unerträglich fand? Weshalb hätte da irgendwer Lust haben sollen, ihr zu helfen?«
»Für dich scheint es eine Rolle zu spielen«, entgegnete Erlendur vorsichtig.
»Sie war meine Freundin«, sagte Eva Lind. »Ich wollte aber nicht über sie reden. Bist du bereit, Mama zu treffen?«
»Du hast das Gefühl, ich sei nicht für dich da gewesen?«
»Du hast mehr als genug getan«, erklärte Eva Lind.
»Bei dir gelingt es mir einfach nie, dich richtig anzufassen, ich bin nicht imstande, dir zu helfen.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich schaff das schon.«
»Sie fand sich selbst unerträglich?«
»Wer?«
»Deine Freundin. Du hast gesagt, sie hätte sich selbst unerträglich gefunden. Hat sie sich deswegen eine Überdosis gespritzt? Hat sie sich selbst verachtet?«
Eva Lind drückte die Zigarette sorgfältig aus. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, sie hat überhaupt keine Achtung mehr vor sich selbst gehabt. Es war ihr vollkommen egal, was aus ihr werden würde. Sie fand so ziemlich alles ekelhaft, aber am meisten ekelte sie sich vor sich selbst.«
»Hast du dich jemals so ähnlich wie sie gefühlt?«
»Mindestens tausend Mal«, erklärte Eva Lind. »Wirst du dich mit Mama treffen?«
»Ehrlich gesagt glaube ich, dass das überhaupt nichts bringen würde«, sagte Erlendur. »Ich habe keine Ahnung, über was ich mit ihr reden sollte. Als wir zuletzt miteinander gesprochen haben, war sie extrem aggressiv.«
»Kannst du das nicht für mich tun?«
»Was versprichst du dir davon, nach all dieser Zeit?«
»Ich möchte bloß, dass ihr miteinander redet«, sagte Eva Lind. »Ich möchte euch beide bloß einmal zusammen sehen. Ist das so verdammt schwer? Ihr habt zwei Kinder, Sindri und mich.«
»Du machst dir doch wohl keine Hoffnungen, dass wir wieder zusammenkommen?«
Eva Lind blickte ihren Vater lange an. »Ich bin doch nicht dämlich«, sagte sie. »Denk bloß nicht, dass ich dämlich bin.«
Dann sprang sie auf, raffte ihre Sachen zusammen und war im nächsten Augenblick schon zur Tür hinaus.
Erlendur setzte sich wieder und dachte über diese plötzlichen Wutausbrüche von Eva Lind nach. Es würde ihm wohl nie gelingen, mit ihr zu reden, ohne sie früher oder später gegen sich aufzubringen. Evas Idee, dass er und Halldóra, seine Exfrau und die Mutter seiner Kinder, sich treffen sollten, war seiner
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