Kaeltezone
Lothar Weiser erinnern kann? Dem sind wir noch gar nicht nachgegangen.«
Am nächsten Tag wurde Sigurður Óli aus dem isländischen Kultusministerium eine Liste mit den Namen derjenigen zugestellt, die ein Studium in der DDR absolviert hatten, und zwar seit Ende des Zweiten Weltkriegs bis etwa 1970. Sie kamen nur langsam voran; sie begannen mit denjenigen, die Ende der sechziger Jahre dort gewesen waren, und arbeiteten sich von da aus zeitlich zurück. Es gab keinen Zeitdruck, und sie konnten sich parallel dazu mit anderen Dingen befassen, die unterdessen auf ihren Schreibtischen landeten, größtenteils Einbrüche und Diebstähle. Sie wussten zwar, dass Lothar Weiser in den fünfziger Jahren an der Leipziger Universität immatrikuliert gewesen war, aber es war durchaus denkbar, dass er sich auch noch in späteren Jahren dort herumgetrieben hatte. Sie versuchten, die Suche so effektiv wie möglich zu gestalten, deswegen tasteten sie sich von dem Zeitpunkt an, als er in Island spurlos verschwunden war, Schritt für Schritt in die Vergangenheit zurück.
Die Strategie war, die Betreffenden nicht anzurufen und sich am Telefon mit ihnen zu unterhalten, sondern sie versprachen sich mehr davon, unerwartet bei ihnen zu Hause vorzusprechen. Erlendur war der Meinung, dass die erste Reaktion, wenn die Kriminalpolizei vor der Tür stand, besonders wichtig war. Wie in militärischen Auseinandersetzungen konnte ein unerwarteter Angriff unter Umständen den Gegner aus der Reserve locken. Das Mienenspiel beispielsweise, wenn sie erklärten, weshalb sie gekommen waren. Die ersten Sätze.
Der September neigte sich bereits dem Ende zu, und sie waren mit ihren Recherchen über isländische Studenten in Leipzig in der Mitte der fünfziger Jahre angelangt, als Elínborg und Sigurður Óli eines Tages an der Tür einer Frau mit Namen Rut Bernharðs anklopften. Ihren Informationen zufolge hatte sie schon nach anderthalb Jahren das Studium in Leipzig abgebrochen.
Sie kam selbst zur Tür und erschrak heftig, als sich herausstellte, dass die Kriminalpolizei etwas von ihr wollte.
Siebenundzwanzig
Rut Bernharðs’ fragende Blicke wanderten zwischen Elínborg und Sigurður Óli hin und her. Sie begriff überhaupt nicht, was die Kriminalpolizei von ihr wollte. Sigurður Óli musste es dreimal wiederholen, bevor sie schaltete und fragte, worum es denn genau ginge. Es war gegen zehn Uhr morgens. Sie standen auf dem Korridor eines Wohnblocks der gleichen Art wie der, in dem Erlendur lebte, nur war dieser hier dreckiger, der Teppich zerschlissener, und auf sämtlichen Etagen roch es muffig.
Ruts Erstaunen war grenzenlos, als Elínborg ihr gesagt hatte, um was es ging.
»Die Studenten in Leipzig?«, sagte sie. »Was wollt ihr denn über sie wissen? Und wozu?«
»Dürfen wir vielleicht einen Moment zu dir hereinkommen?«, fragte Elínborg. »Es dauert bestimmt nicht lange.« Rut war noch eine ganze Weile unschlüssig, aber schließlich öffnete sie ihnen die Tür. Sie traten in eine kleine Diele, von der aus man ins Wohnzimmer gelangte. Rechts war das Schlafzimmer, links waren die Küche und das Wohnzimmer. Rut ließ sie Platz nehmen und fragte, ob sie vielleicht einen Tee oder etwas anderes wollten. Sie entschuldigte sich mehrmals und erklärte, sie habe noch nie in ihrem Leben mit der Polizei zu tun gehabt. Es war ihr anzusehen, wie verwirrt sie war. Elínborg ging davon aus, dass sie sich wieder fangen würde, während sie den Tee zubereitete, und sie nahm deswegen das Angebot dankend an, sehr zum Verdruss von Sigurður Óli, der keineswegs auf eine Einladung zum Tee erpicht war. Er gab Elínborg dies mit einer Grimasse zu verstehen, die sie aber mit einem Lächeln quittierte.
Sigurður Óli hatte tags zuvor wieder einen Anruf von dem Mann bekommen, der Frau und Tochter bei einem Verkehrsunfall verloren hatte. Bergþóra und er waren gerade von einer Routineuntersuchung nach Hause gekommen. Der Arzt hatte ihnen gesagt, dass die Schwangerschaft bestens verliefe, der Embryo würde prächtig gedeihen, und sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen. Die Worte des Arztes hatten aber wenig Wirkung, denn Ähnliches hatten sie schon früher zu hören bekommen. Sie saßen in der Küche und unterhielten sich besorgt über den weiteren Verlauf der Schwangerschaft, als das Telefon klingelte.
»Ich kann jetzt nicht mit dir reden«, sagte Sigurður Óli, als er hörte, wer dran war.
»Ich wollte dich nicht stören«, sagte der Mann, der immer die
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