Kaeltezone
Sigurður Óli sich unter einem Vorwand ins Auto zurückziehen würde, aber er blieb stur neben ihr sitzen und starrte Rut an. »Er hieß Lothar Weiser«, fügte sie hinzu.
»Lothar?«, sagte Rut. »Ja, aber nicht sehr gut. Er konnte Isländisch.«
»Das passt«, sagte Elínborg. »Erinnerst du dich an ihn?«
»Nur ganz wenig«, erklärte Rut. »Er kam manchmal zum Essen zu uns ins Wohnheim. Ich habe ihn aber nie näher kennen gelernt. Ich hatte immer Heimweh und … Die Verhältnisse waren so primitiv, die Unterkünfte waren schlimm und … ich … das war einfach nichts für mich.«
»Ja, die Zustände waren wohl schlimm dort nach dem Krieg«, sagte Elínborg.
»Es war einfach grauenvoll«, sagte Rut. »Der Aufbau in Westdeutschland ging zehnmal schneller voran, aber dort wurden sie ja auch von den Westmächten unterstützt. In der DDR lief alles im Schneckentempo oder überhaupt nicht.«
»Soweit wir wissen, hat dieser Lothar die Aufgabe gehabt, seine Kommilitonen dazu zu bringen, für sich zu arbeiten«, sagte Sigurður Óli. »Oder sie in gewissem Sinne zu bespitzeln. Hast du davon etwas bemerkt?«
»Wir wurden ständig bespitzelt«, erklärte Rut, »und wir wussten es alle. Es wurde die gegenseitige Kontrolle genannt, ein anderer Begriff für Bespitzeln. Die Leute sollten sich freiwillig melden und davon berichten, wenn sie das Gefühl hatten, mit antisozialistischen Anschauungen in Berührung zu kommen. Wir haben das natürlich nicht gemacht, keiner von uns. Ich habe nicht bemerkt, dass Lothar die Aufgabe hatte, uns zu Mitarbeitern zu machen. Alle ausländischen Studierenden hatten einen so genannten Betreuer, an den sie sich immer wenden konnten und der sich um sie kümmerte. Lothar war einer von diesen Betreuern.«
»Hast du noch Verbindung zu deinen ehemaligen Kommilitonen aus Leipzig?«
»Nein«, sagte Rut, »es ist lange her, dass ich jemanden getroffen habe. Wir haben keinen Kontakt mehr zueinander, oder zumindest weiß ich davon nichts. Was mich betrifft: Ich bin ausgestiegen, als ich nach Hause kam. Das heißt, ich bin nicht aus der Partei ausgetreten, aber ich habe mich völlig zurückgezogen.«
»Wir haben hier die Namen von weiteren isländischen Studenten in Leipzig, die zu deiner Zeit dort waren: Karl, Hrafnhildur, Emíl, Tómas, Hannes …«
»Hannes wurde von der Uni relegiert und nach Island abgeschoben«, unterbrach Rut Sigurður Óli. »Soweit ich gehört habe, hat er zum Schluss weder an den Pflichtveranstaltungen noch an den Aufmärschen zum Tag der Republik teilgenommen, und irgendwie passte er nicht mehr ins Bild. Man ging in der DDR davon aus, dass wir an allem teilnahmen. Deswegen haben wir in den Semesterferien für den Sozialismus gearbeitet. In den Landwirtschaftskollektiven und im volkseigenen Braunkohlenabbau. Soweit ich weiß, hatte Hannes kritische Ansichten über das, was er sah und hörte. Es ging ihm nur noch darum, sein Studium zu Ende zu bringen, aber das wurde ihm nicht gestattet. Vielleicht wäre es gut, wenn ihr euch mit ihm unterhieltet – falls er überhaupt noch am Leben ist, was ich nicht weiß.«
Sie blickte fragend von Sigurður Óli zu Elínborg.
»Habt ihr vielleicht Hannes da in dem See gefunden?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Elínborg. »Ganz bestimmt nicht. Unseres Wissens lebt er in Selfoss und betreibt dort ein kleines Hotel.«
»Ich kann mich daran erinnern, dass er nach seiner Rückkehr über seine Leipziger Erfahrungen schrieb, und deswegen haben sie ihn fertig gemacht, die alten Sozis in der Partei. Sie haben ihn als Verräter und Lügner gebrandmarkt. Die Rechten haben ihn wie den verlorenen Sohn aus der Bibel gefeiert und auf Händen getragen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm daran gelegen war. Ich denke, er hat ganz einfach nur die Realität schildern wollen, die ihm allenthalben ins Auge sprang, aber das kostet natürlich Kraft. Ich habe ihn ein paar Jahre später einmal getroffen, da wirkte er sehr reserviert und sagte wenig. Vielleicht hat er geglaubt, dass ich immer noch in der Partei aktiv wäre, aber das war ich nicht. Ihr solltet mit ihm sprechen. Er könnte mehr über Lothar wissen. Ich war bloß so kurze Zeit da.«
Als sie wieder im Auto saßen, wies Elínborg Sigurður Óli scharf darauf hin, dass seine privaten politischen Ansichten in einer kriminalpolizeilichen Ermittlung nichts zu suchen hätten, er solle sich gefälligst am Riemen reißen und nicht in dieser Form über die Leute herfallen, und schon gar nicht
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