Kaeltezone
Erlendur.
Hannes blickte sie nachdenklich an.
»Am besten setze ich noch etwas Kaffee auf«, sagte er und erhob sich.
Hannes sagte ihnen, dass er zu dem Zeitpunkt in einem neuen Reihenhaus im Vogar-Viertel gewohnt habe. Eines Abends klingelte es an der Tür, und als er öffnete, stand Tómas auf der Treppe. Es war Herbst, und draußen war es nass und kalt, der Wind schüttelte die Bäume im Garten, und Regengüsse peitschten das Haus. Hannes brauchte einige Zeit, um zu begreifen, wer zu Besuch gekommen war. Als ihm klar wurde, dass Tómas vor ihm stand, war er sehr überrascht. Sein Erstaunen war so groß, dass es ihm erst nach einiger Zeit einfiel, Tómas aus dem Regen ins Haus zu bitten. »Entschuldige, dass ich dich so überfalle«, sagte Tómas.
»Nein, nein, das ist völlig in Ordnung«, sagte Hannes. »Was für ein scheußliches Wetter. Komm doch bitte ins Haus, komm rein.«
Tómas zog sich den Mantel aus, begrüßte Hannes’ Frau und die Kinder, die sich neugierig einfanden, um zu sehen, wer da zu Besuch gekommen war. Er lächelte ihnen zu. Hannes hatte ein kleines Büro im Keller des Hauses, und nachdem sie eine Tasse Kaffee getrunken und über das Wetter geredet hatten, lud er ihn ein, mit nach unten zu kommen. Er sah, dass Tómas etwas auf dem Herzen lag, denn er wirkte unruhig und fahrig und war ein wenig verlegen, so plötzlich bei Leuten hereingeschneit zu sein, die er im Grunde genommen überhaupt nicht kannte. In Leipzig waren sie keineswegs Freunde gewesen. Seiner Frau gegenüber hatte er Tómas nie erwähnt.
Sie ließen sich im Keller nieder und sprachen eine Zeit lang über die Jahre in Leipzig. Sie wussten von einigen, was aus ihnen geworden war, aber nicht von allen. Hannes merkte, wie Tómas sich langsam und vorsichtig seinem eigentlichen Anliegen näherte, und er dachte bei sich, dass er ihn eigentlich sehr nett gefunden hatte. Er sah ihn noch vor sich, wie er das erste Mal in der Universitätsbibliothek auf ihn zugekommen war, er erinnerte sich daran, wie schüchtern und höflich er gewesen war und welchen Eindruck er auf ihn gemacht hatte. Er war der Jungsozialist, der keinen Schatten auf seinen Idealen duldete.
Er wusste von Ilonas Verschwinden und rief sich den ersten Besuch von Tómas ins Gedächtnis, nachdem er als völlig veränderter Mensch aus der DDR zurückgekehrt war und ihm erzählt hatte, was vorgefallen war. Er konnte nicht anders, als Mitleid mit ihm zu haben. Er hatte Tómas im Zorn einen Brief geschrieben, in dem er ihm die Schuld daran gab, dass man ihn von der Universität gewiesen hatte, aber als der erste Zorn verflogen und er wieder nach Island zurückgekehrt war, wurde ihm klar, dass Tómas nicht mehr Schuld daran trug als er selbst, denn er hatte sich gegen das System aufgelehnt. Tómas fing dann an, über den Brief zu reden, und erklärte, dass er nie darüber hinweggekommen sei. Er sagte zu Tómas, er solle nicht mehr über diesen Brief nachdenken, er habe ihn seinerzeit in großer Erregung geschrieben, und was darin stand, stimme einfach nicht. Sie hatten sich dann voll und ganz ausgesöhnt. Tómas hatte sich mit den isländischen Parteibonzen in Verbindung gesetzt, und ihm war versprochen worden, dass man eine Anfrage über Ilonas Verbleib in die DDR schicken würde. Er wurde wegen seiner Relegierung scharf gerügt, weil er seine Stellung und das Vertrauen, das in ihn gesetzt worden war, missbraucht hatte. Er hatte alles zugegeben und bereut. Er hatte ihnen alles gesagt, was sie hören wollten. Sein einziges Ziel war es, Ilona zu helfen. Aber alles war vergebens.
Tómas war zu Ohren gekommen, dass Ilona und Hannes einmal zusammen gewesen seien, weil Ilona angeblich durch Heirat in den Westen gelangen wollte. Hannes entgegnete darauf, dass ihm das vollkommen neu sei, er sei nur zu ein paar Versammlungen gegangen, auf denen er Ilona kennen lernte, und bald darauf hatte er sämtliche politische Betätigung eingestellt.
Und jetzt war Tómas wieder zu ihm gekommen. Zwölf Jahre waren seit dem letzten Besuch vergangen. Er hatte angefangen, über Lothar zu reden, und schien jetzt endlich auf sein Anliegen zuzusteuern.
»Ich möchte dich gern etwas über Emíl fragen«, sagte Tómas. »Du weißt, dass wir in Deutschland befreundet waren.«
»Ja, das weiß ich«, sagte Hannes.
»Kann es sein, dass Emíl … dass Emíl irgendwelche besonderen Verbindungen zu Lothar gehabt hat?«
Er nickte. Es war nicht seine Art, hinter dem Rücken von Leuten schlecht über sie
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