Kaeltezone
und ein bisschen mit sich allein ist.«
»Ich hab mir das Haus angesehen, wo ihr früher gewohnt habt. Der Hof ist verfallen.«
»Ja«, sagte Erlendur, »schon seit langem. Eigentlich ist es nur noch eine Ruine. Ich habe manchmal überlegt, ob man es renovieren und zu einem Sommerhaus umfunktionieren lassen soll, aber …«
»Aber da ist doch völlig tote Hose.«
Erlendur blickte Sindri an.
»Es tut immer noch gut, da zu schlafen. Bei den Geistern der Vergangenheit.«
Als er abends zu Bett ging, dachte er an die Worte seines Sohnes. Es stimmte, was Sindri gesagt hatte. Er war manchmal im Sommer in die Ostfjorde gefahren, um nach seinem Bruder zu suchen. Er wusste keinen anderen Grund dafür als den offensichtlichen, dass er die sterblichen Überreste finden wollte, um die Sache zum Abschluss zu bringen, auch wenn er sich im tiefsten Inneren klar darüber war, dass wenig Hoffnung bestand. Die erste und die letzte Nacht auf diesen Reisen verbrachte er immer in ihrem ehemaligen Wohnhaus. Der Hof war verlassen. Er schlief auf dem Fußboden im Wohnzimmer, schaute durch zerbrochene Fensterscheiben zum Himmel hinauf und dachte an die Zeiten zurück, als er hier in diesem Zimmer mit seiner Familie, mit Verwandten und befreundeten Nachbarn saß. Er betrachtete die schön lackierte Zimmertür, sah seine Mutter mit der Kaffeekanne hereinkommen und den Gästen in der sanften Helligkeit der Wohnzimmerlampe Kaffee einschenken. Sein Vater stand an der Tür und lächelte über etwas, das gesagt worden war. Sein Bruder, den all diese Gäste schüchtern machten, kam zu ihm und fragte, ob er sich noch ein Stückchen Gebäck nehmen durfte. Er selber saß am Fenster und schaute zu den Pferden hinaus. Die Leute hatten einen Ausritt gemacht, alle waren guter Dinge, und man unterhielt sich lebhaft.
Das waren die Geister seiner Vergangenheit.
Zehn
Marian Briem wirkte ein wenig frischer, als Erlendur am folgenden Tag frühmorgens vorbeischaute. Erlendur hatte einen Western mit John Wayne aufgetrieben, der The Searchers hieß. Marian schien sich zu freuen und bat ihn, die Kassette ins Videogerät einzulegen.
»Seit wann schaust du dir Western an?«, fragte Erlendur. »Ich hatte schon immer ein Faible dafür«, sagte Marian Briem. Die Sauerstoffmaske lag auf dem Tisch neben dem Sessel im Wohnzimmer. »Die besten erzählen einem simple Geschichten über simple Menschen, Hinterwäldler. Ich hätte gedacht, dass du als Hinterwäldler ebenfalls Spaß an solchen Geschichten aus dem Wilden Westen haben würdest.« »Ich hab mich nie sonderlich fürs Kino interessiert«, sagte Erlendur.
»Kommst du mit dem Kleifarvatn-Fall vorwärts?«, erkundigte sich Marian.
»Was können wir daraus schließen, dass ein Skelett, das wahrscheinlich aus den sechziger Jahren stammt, gefunden wird und an ein russisches Abhörgerät gebunden ist?«, fragte Erlendur.
»Da kommt doch wohl nur eins in Frage«, entgegnete Marian.
»Spionage?«
»Ja.«
»Glaubst du tatsächlich, dass wir da im See einen richtigen isländischen Spion gefunden haben?«
»Wer sagt, dass er Isländer ist?«
»Muss man davon nicht ausgehen?«, entgegnete Erlendur zögernd.
»Es gibt keinen zwingenden Grund für die Annahme, dass es sich um einen Isländer handelt.» Marian Briem wurde plötzlich von einem Hustenanfall geschüttelt und rang nach Atem. »Reich mir die Sauerstoffmaske, dann geht’s mir wieder besser.«
Erlendur griff nach der Maske, legte sie ihm an und drehte den Hahn an der Sauerstoffflasche auf. Er überlegte, ob er die Krankenpflegerin zu Hilfe rufen sollte oder vielleicht sogar einen Arzt. Marian schien seine Gedanken lesen zu können.
»Mach kein Theater. Ich brauch keine Hilfe. Die Krankenpflegerin kommt nachher.«
»Ich darf dich nicht so ermüden.«
»Geh nicht gleich. Du bist der Einzige von denen, die mich besuchen kommen, mit dem ich wirklich reden möchte. Und der mir möglicherweise eine Zigarette gibt.«
»Du kriegst keine Zigarette von mir.«
Es herrschte Schweigen, bis Marian die Sauerstoffmaske wieder abnahm.
»Haben denn Isländer während des Kalten Krieges auch Spionage betrieben?«, fragte Erlendur.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Marian. »Ich weiß nur, dass man versucht hat, sie dazu zu bewegen. Ich kann mich an einen Mann erinnern, der zu uns kam und sich über die zudringlichen Russen beschwerte.« Marian schloss die Augen. »Es war ein unglaublich plumper und läppischer Spionageversuch, eigentlich typisch isländisch. Die
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