Kaeltezone
Schluck von dem sauren Weißwein zu Gemüte führte. Elínborg und Bergþóra entdeckten einen bekannten Fernsehmoderator unter den Gästen und tauschten sich darüber aus, mit wem er fremdging. Sigurður Óli traf einen Bekannten, und sie begrüßten sich mit Handschlag. Erlendur kannte ihn nicht und nutzte die Gelegenheit, um sich zurückzuziehen. Er wollte sich gerade klammheimlich wegschleichen, als er einem alten Kollegen in die Arme lief, der kurz vor der Pensionierung stand. Erlendur wusste, dass ihm das zu schaffen machte.
»Hast du gehört, wie es um Marian Briem steht?«, erkundigte sich der Mann und trank einen Schluck Weißwein. »Die Lungen sind hinüber, wenn ich es richtig verstanden habe. Hockt nur noch zu Hause rum und quält sich.«
»Stimmt«, sagte Erlendur. »Und guckt sich Western an.«
»Du hast nachgeforscht, was mit dem Falcon ist?«, fragte der Mann, leerte sein Glas und griff sich ein neues von dem Tablett, das an ihnen vorbeischwebte.
»Dem Falcon?«
»Im Dezernat redet man darüber, dass du dich wegen des Skeletts im Kleifarvatn mit alten Vermisstenfällen befasst.«
»Kannst du dich an irgendetwas im Zusammenhang mit dem Falcon erinnern?«
»Nicht genau. Wir haben ihn vor dem Busbahnhof gefunden. Níels leitete damals die Ermittlung. Ich habe ihn übrigens auch gerade hier irgendwo gesehen. Das Buch von dem Mädel ist wirklich toll«, fügte der Mann hinzu. »Ich hab’s mir gerade angeschaut. Super Fotos.«
»Das Mädel ist schon über vierzig«, sagte Erlendur. »Aber trotzdem, ein tolles Buch.«
Er hielt Ausschau nach Níels und sah ihn schließlich auf einer breiten Fensterbank sitzen. Erlendur gesellte sich zu ihm und konnte nicht umhin, daran zu denken, wie sehr er diesen Mann manchmal beneidete. Níels konnte auf eine lange Karriere bei der Kriminalpolizei zurückblicken und war von einer Familie umgeben, auf die er stolz sein konnte. Seine Frau war eine bekannte Künstlerin, sie hatten vier vielversprechende Kinder in die Welt gesetzt, die alle studiert hatten und am laufenden Band Enkelkinder produzierten. Das Ehepaar lebte in einer eindrucksvollen Villa, die von der Künstlerin selbst entworfen worden war, zwei Autos standen in der Einfahrt, und nicht der geringste Schatten schwebte über ihrem Lebensglück. Für Erlendur konnte es keinen glücklicheren und zufriedeneren Mann geben als Níels. Von Freundschaft zwischen ihnen konnte keine Rede sein. Erlendur hatte immer das Gefühl gehabt, dass Níels ein arbeitsscheuer Mensch war, der eigentlich nichts bei der Kriminalpolizei zu suchen hatte. Das private Glück trug auch nicht dazu bei, Erlendurs Antipathien zu reduzieren.
»Marian ist schlimm dran«, sagte Níels, als Erlendur sich zu ihm setzte.
»Seine Zeit ist bestimmt noch nicht abgelaufen«, sagte Erlendur wider besseres Wissen. »Wie geht es dir?«
Die Frage war eine reine Höflichkeitsfloskel. Er wusste immer ganz genau, wie es Níels ging.
»Ich kapier das einfach nicht mehr«, sagte Níels. »Wir schnappen an einem Wochenende immer wieder denselben Kerl bei Einbrüchen, gleich fünf Mal. Jedes Mal gibt er alles zu – und wird deswegen dann sofort wieder auf freien Fuß gesetzt, weil der Fall als aufgeklärt gilt. Dann der nächste Einbruch: Er gesteht alles, wird freigelassen und bricht sofort wieder irgendwo ein. Was für ein Hornochse ist das eigentlich? Warum kann man hier nicht ein System einrichten, in dem solche Idioten direkt eingelocht werden? Die können zwanzig solcher Delikte ansammeln, bevor sie endlich vor den Kadi gestellt werden, sie kriegen eine Minimalstrafe und kommen dann auf Bewährung wieder raus, und kurze Zeit später verhaften wir wieder die gleichen Typen. Das ist doch der reinste Irrsinn. Warum werden diese Kerle nicht einfach ordentlich verknackt?!«
»Wenn’s irgendwo im System hapert, dann in der isländischen Rechtsprechung«, sagte Erlendur.
»Diese Ganoven lachen sich doch kaputt über die Richter«, erklärte Níels. »Und dann die Sexualverbrecher, die sich an kleinen Kindern vergehen, und die Gewalttäter!«
Sie schwiegen. Die öffentliche Diskussion über zu milde Strafen wurde auch innerhalb der Kriminalpolizei geführt, und die Mitarbeiter, die Verbrecher wie Kinderschänder und Vergewaltiger überführten und der Gerechtigkeit überantworteten, waren äußerst betroffen, wenn sie kurze Zeit später von milden Strafen, manchmal sogar auf Bewährung, hörten.
»Was ganz anderes«, sagte Erlendur. »Kannst du dich
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