Kaeltezone
ängstlich und neugierig zugleich anstarrten. Ihm wurde klar, dass das hier ein Kadertreffen mit umgekehrten Vorzeichen war. Das war nicht wie bei den Jungsozialisten daheim in Island, wenn sie Aktionen planten. Diese Leute kämpften nicht für den Sozialismus, sondern es war ein geheimes Treffen von Gegnern des Sozialismus. Soweit er begriff, trafen sich diese Leute heimlich, weil sie fürchteten, wegen staatsgefährdender Umtriebe bestraft zu werden.
Sie erzählten ihm von Lothar. Er war keineswegs in Berlin geboren, sondern in Bonn. Er hatte in Moskau studiert, wo er unter anderem Isländisch gelernt hatte. Seine Aufgabe war es, die Studenten an der Universität für die Partei zu rekrutieren. Er freundete sich vor allem mit ausländischen Studierenden an, die in Städten wie Leipzig ihre Ausbildung machten und später womöglich von Nutzen sein konnten. Es war Lothar gewesen, der versucht hatte, Hannes dazu zu bewegen, für ihn und die Partei zu arbeiten. Und Lothar hatte bestimmt seinen Anteil daran gehabt, dass Hannes schließlich von der Universität gewiesen worden war.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du Hannes kennst?«, fragte er Ilona verwirrt.
»Wir sprechen zu niemandem darüber«, sagte sie. »Hannes hat es dir gegenüber ja auch nicht erwähnt, oder? Du hättest es sonst brühwarm an Lothar weitergegeben.«
»Lothar?«
»Du hast ihm von Hannes erzählt«, sagte Ilona.
»Ich wusste nicht …«
»Wir müssen uns bei allem, was wir sagen, in Acht nehmen, immer. Du hast Hannes bestimmt nicht geholfen, indem du mit Lothar gesprochen hast.«
»Ich wusste nichts über Lothar, Ilona.«
»Es muss auch nicht Lothar sein«, sagte Ilona. »Es kann jeder x-Beliebige gewesen sein. Das weiß man nie. Man weiß nie, wer es ist. So funktioniert das System. So haben sie Erfolg.«
Er starrte Ilona an und wusste, dass sie Recht hatte. Lothar hatte ihn ausgenutzt, hatte sich seine Wut zunutze gemacht. Er hatte etwas zu jemandem gesagt, das er nicht hätte sagen dürfen. Niemand hatte ihn gewarnt. Niemand hatte darüber gesprochen, dass man die Dinge für sich behalten musste. In seinem Innersten wusste er aber, dass ihm niemand etwas hätte sagen müssen. Er fühlte sich elend. Sein Gewissen quälte ihn. Er wusste genau, wie das System funktionierte. Er wusste alles über die gegenseitige Kontrolle. Er hatte sich vom Zorn hinreißen lassen. Sein kindisches Verhalten hatte ihnen etwas gegen Hannes in die Hand gegeben.
»Hannes hatte keine Verbindung zu den anderen Isländern mehr«, sagte er.
»Genau«, sagte Ilona.
»Weil … weil er …« Er brachte den Satz nicht zu Ende.
Ilona nickte.
»Was geht hier eigentlich vor?«, fragte er. »Was geht hier eigentlich vor, Ilona?«
Ilona blickte in die Runde, als würde sie auf eine Reaktion warten. Der Mann, der vorhin das Wort ergriffen hatte, nickte ihr zu, und sie sagte ihm, dass die anderen von sich aus an sie herangetreten waren. Eine in der Gruppe – Ilona deutete auf die Frau, die ihm die Hand gegeben hatte – studierte zusammen mit ihr Germanistik und wollte etwas darüber wissen, was in Ungarn passierte, über den Widerstand gegen die kommunistische Partei und die Angst vor der Sowjetunion. Die Kommilitonin war sehr vorsichtig zu Werke gegangen, und erst, als sie sich ganz sicher war, dass Ilona einen Aufstand in Ungarn befürwortete, lud sie sie zu einem Treffen mit Gleichgesinnten ein. Die Überwachungsmaßnahmen wurden verschärft, und allenthalben waren die Menschen aufgefordert, sich mit der Staatssicherheit in Verbindung zu setzen, falls sich klassenfeindliche Anschauungen und Verhaltensweisen bemerkbar machten. Es hing mit dem Volksaufstand von 1953 zusammen und war in gewissem Sinne eine Reaktion auf die aktuelle Entwicklung in Ungarn. Ilona hatte Hannes bei ihrer ersten Begegnung mit den jungen Leuten in Leipzig getroffen. Sie wollten alle wissen, was in Ungarn vor sich ging und ob man einen solchen Widerstand auch in der DDR aufbauen könne.
»Wieso war Hannes in dieser Gruppe?«, fragte er. »Wie ist er zu euch gestoßen?«
»Hannes war auf die gleiche Propaganda hereingefallen wie du«, sagte Ilona. »Ihr habt da wohl eine sehr rührige und starke Partei in Island.« Sie sah den Mann an, der vorher das Wort ergriffen hatte. »Martin hier und Hannes haben beide Ingenieurwissenschaften studiert und sich angefreundet«, sagte sie. »Es hat lange gedauert, bis Hannes endlich begriff, worum es ging. Wir vertrauten ihm und hatten keinen
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