Kaeltezone
erzählten und davon dass alle darüber sprachen, dass man Hannes zum Flughafen gebracht hatte. Emíl musste es ihm drei Mal sagen. Ihr Landsmann wurde behandelt, als sei er ein regelrechter Verbrecher. Abends wurde im Wohnheim über nichts anderes geredet. Niemand wusste genau, was passiert war.
Tags darauf, drei Tage nach ihrem Streit in der Kaffeestube, erhielt er eine Nachricht von Hannes. Hannes’ Zimmergenosse überbrachte sie ihm. Der Zettel steckte in einem verschlossenen Umschlag, auf dem nur sein Name stand. Tómas. Er öffnete den Umschlag und setzte sich mit dem Brief auf sein Bett.
Du hast mich gefragt, was in Leipzig passiert ist. Was mit mir passiert ist. Es ist sehr einfach. Sie haben mich wiederholt gebeten, meine Freunde zu bespitzeln und Informationen darüber weiterzugeben, was ihr über den Sozialismus sagt, über die DDR, über Ulbricht und was für Radiosender ihr hört. Nicht nur ihr, sondern alle, mit denen ich zusammenkam. Ich habe mich geweigert, für sie den Denunzianten zu spielen. Ich habe erklärt, dass ich meine Freunde nicht bespitzeln werde. Sie gingen davon aus, dass ich gefügig sein würde, weil sie mir damit drohten, mich von der Uni zu verweisen. Ich habe mich geweigert, aber sie haben mich immerhin noch geduldet. Bis jetzt. Warum konntest du mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Hannes
Er las den Brief mehrmals und konnte nicht glauben, was da stand. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, und für einen Augenblick schwindelte ihn.
Warum konntest du mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Hannes gab ihm die Schuld daran, dass er relegiert worden war. Hannes glaubte wahrscheinlich, dass er direkt zur Universitätsverwaltung gegangen war und gemeldet hatte, was für Ansichten er hatte, seine Auflehnung gegen den Kommunismus. Wenn er ihn in Ruhe gelassen hätte, wäre nichts passiert. Er starrte auf den Brief. Das war ein Missverständnis. Was meinte Hannes eigentlich? Er hatte doch mit niemandem von der Universität gesprochen, sondern nur mit Lothar und Ilona geredet und abends Emíl, Karl und Hrafnhildur gegenüber sein Befremden über Hannes’ Anschauungen zum Ausdruck gebracht. Das war nichts Neues. Die anderen waren seiner Meinung gewesen. Sie fanden, dass Hannes’ Kehrtwendung im besten Fall fragwürdig, im schlimmsten Fall verwerflich war.
Es musste ein Zufall sein, dass Hannes nach ihrem Streit von der Uni verwiesen worden war. Hannes hatte das missverstanden und es mit ihrem Gespräch in Verbindung gebracht. Hannes konnte doch nicht allen Ernstes glauben, dass es seine Schuld war, dass er sein Studium nicht zu Ende bringen konnte! Er hatte gar nichts getan. Er hatte mit niemandem außer mit seinen Freunden darüber gesprochen. Grenzte das nicht an Verfolgungswahn? Konnte Hannes im Ernst so etwas glauben?
Emíl war in seinem Zimmer, und er zeigte ihm den Brief. Emíl schnaubte verächtlich. Er hatte eine starke Abneigung gegen Hannes und alles, wofür er stand, entwickelt, und er hielt nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg.
»Der spinnt ja«, sagte Emíl. »Nimm das bloß nicht ernst.« »Aber warum behauptet er das?«
»Tómas«, sagte Emíl. »Denk nicht weiter darüber nach. Er versucht bloß, die Schuld für sein eigenes Fehlverhalten anderen zuzuschieben. Er hätte Leipzig schon lange verlassen sollen.«
Er sprang auf, schnappte sich seinen Mantel und zog ihn im Laufen an, während er das Haus verließ. Er rannte quer durch die Stadt, bis er vor Ilonas Wohnungstür stand und anklopfte. Die Vermieterin öffnete die Tür und ließ ihn herein. Ilona schien gerade aufbrechen zu wollen, sie war bereits im Mantel und setzte sich eine Mütze auf. Sie erschrak, als Tómas hereinkam, sie sah sofort, dass er aufgewühlt war.
»Was ist los?«, fragte sie und trat zu ihm.
Er schloss die Tür.
»Hannes glaubt, dass ich etwas damit zu tun habe, dass er von der Uni geflogen und nach Island abgeschoben worden ist. Als hätte ich ihn denunziert!«
»Was sagst du da?«
»Er gibt mir die Schuld daran, dass er relegiert wurde!«
»Mit wem hast du gesprochen?«, fragte Ilona. »Nach deinem Treffen mit Hannes?«
»Nur mit dir und mit den anderen Isländern. Ilona, was hast du neulich gemeint mit den jungen Leuten in Leipzig, die angeblich dieselben Anschauungen haben wie Hannes? Was für Leute sind das? Woher kennst du sie?«
»Hast du mit niemand anderem gesprochen? Bist du sicher?«
»Nein, nur mit Lothar. Was weißt du über die jungen Leute in Leipzig?«
»Hast
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