Kaeltezone
nichts von dem zerstören, was ihr noch geblieben war. Er hatte zu oft gesehen, wie so etwas geschah. Wenn sie zu Hause bei einem Straftäter erschienen und die Ehefrau sie anstarrte und ihren Augen nicht zu trauen vermochte. Kinder scharten sich um sie herum. Das ganze Kartenhaus brach zusammen. »Mein Mann? Ein Dealer? Ihr seid wohl nicht ganz dicht!«
»Warum fragst du danach?«, entgegnete die Frau in dem Sessel. »Wisst ihr vielleicht mehr als ich? Habt ihr etwas herausgefunden? Habt ihr etwas Neues herausgefunden?« »Nein, nichts«, sagte Erlendur, und sein Gesicht verzerrte sich leicht, als er hörte, wie gespannt sie war. Er berichtete ihr von seinem Besuch bei Haraldur und dass er den Falcon gefunden hatte, der immer noch existierte, in einer Garage in Kópavogur. Er sagte ihr auch, dass er den verlassenen Hof in Mosfellssveit besucht hatte. Trotzdem sei das Verschwinden ihres Mannes genauso rätselhaft wie zuvor.
»Du hast gesagt, du hättest kein Foto von ihm oder von euch beiden gehabt«, sagte er.
»Nein, das stimmt«, erklärte Ásta. »Wir haben uns nicht so lange gekannt.«
»Es ist also nie ein Bild von ihm in den Zeitungen oder im Fernsehen erschienen, als nach ihm gefahndet wurde?«
»Nein, aber die Beschreibung war recht genau. Damals wollten sie zunächst das Passfoto aus dem Führerschein nehmen, von dem angeblich immer ein Abzug bei der Polizei aufbewahrt wird, aber das haben sie nie gefunden. Als hätte er es nie eingereicht. Aber vielleicht haben sie es ja auch einfach nur verschlampt.«
»Hast du jemals seinen Führerschein gesehen?«
»Seinen Führerschein? Nein, nicht dass ich wüsste. Aber wieso fragst du auf einmal nach einer anderen Frau?«
In ihrer Stimme schwang jetzt ein härterer, unnachgiebigerer Ton mit. Erlendur zögerte einen Augenblick, bevor er die Tür zu etwas öffnete, was die reinste Hölle für sie sein musste. Vielleicht war es zu früh. Es gab einiges, was noch näher in Augenschein genommen werden musste. Vielleicht wäre es besser gewesen, noch etwas zu warten.
»Es gibt Männer, die ihre Frauen verlassen und sich aus dem Staub machen, um ein neues Leben zu beginnen«, sagte er dann.
»Ein neues Leben?« Ásta klang so, als hätte sie noch nie von so etwas gehört.
»Ja«, sagte er. »Vielleicht sogar hier auf Island. Alle glauben, dass hier jeder jeden kennt, aber das ist weit gefehlt. Es gibt viele kleine Dörfer, wo höchstens im Sommer eine Hand voll Leute hinkommt, und vielleicht noch nicht einmal das. Damals waren all diese Orte weitaus isolierter als heute und einige sogar regelrecht von der Außenwelt abgeschlossen. Die Verkehrsverbindungen waren schlecht. Es gab keine Straße, die rings um die Insel führte.«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie. »Worauf willst du hinaus?«
»Ich möchte nur wissen, ob du diese Möglichkeit jemals in Erwägung gezogen hast.«
»Was für eine Möglichkeit?«
»Dass er einen Bus bestiegen hat und zu sich nach Hause gefahren ist.«
Er sah ihr an, dass sie etwas zu begreifen versuchte, das unbegreiflich für sie war.
»Wovon redest du eigentlich?«, stöhnte sie. »Nach Hause? Wohin nach Hause? Was meinst du denn?«
Erlendur merkte, dass er zu weit gegangen war, dass trotz der vielen Jahre, die vergangen waren, seitdem der Mann aus ihrem Leben verschwunden war, das Ganze noch eine offene Wunde war, frisch und nicht verheilt. Er hätte noch etwas warten müssen, bevor er zu ihr ging, mit etwas mehr als seinen eigenen Spekulationen und einem verlassenen Auto vor dem Busbahnhof in der Hand.
»Es ist nur eine Vermutung«, sagte er rasch, um seine Worte abzumildern. »Island ist bestimmt viel zu klein, und hier leben viel zu wenig Menschen«, erklärte er hastig. »Es ist nur so eine Idee, und zwar eine völlig unbegründete.«
Erlendur hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, was geschehen sein konnte, falls der Mann nicht Selbstmord begangen hatte. Nachdem sich der Gedanke in ihm festgesetzt hatte, dass eine andere Frau im Spiel sein konnte, wälzte er sich manchmal schlaflos im Bett. Zunächst schien diese Theorie ganz plausibel zu sein; auf seinen Reisen im Land lernte der Handelsreisende die unterschiedlichsten Menschen aus allen Schichten kennen, Bauern, Hotelangestellte, die Bewohner der kleinen Handelsorte und Fischerdörfer, Frauen. Möglicherweise hatte sich auf einer dieser Reisen eine Liebesbeziehung zu einer Frau angebahnt, die er mit der Zeit der Frau in Reykjavík vorzog, aber er besaß nicht
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