Käptn Snieders groß in Fahrt
aus, um es entgegenzunehmen. Käpten Snieders durchschaute das zwar nicht ganz, aber er gab dem Jungen das Buch. Der las nun nach dem Abc die Namen der Kinder vor und wartete jedesmal, bis die Aufgerufenen „Hier!“ gesagt hatten, ehe erweiterlas. In der Spalte von Heini Brackwede machte er mit seinem Füllfederhalter ein zierliches Kreuz. Käpten Snieders sah, daß da schon viele Kreuze standen, dreißig, vierzig oder noch mehr.
„Ach, richtig“, sagte er, „der Heini ist ja krank. Wie geht’s ihm denn?“
„Dr. Menkewitz aus Berne sagt, daß er nie wieder gehen kann, von der Hüfte bis zu den Füßen ist alles gelähmt“, antwortete Ludwig.
Käpten Snieders schüttelte den Kopf.
„Das ist ja schlimm“, sagte er langsam, „dabei ist der Heini immer so ein fixer Bursche gewesen.“
Natürlich hatte Käpten Snieders damals, vor etwa fünf Monaten, auch erfahren, daß Heini beim Baden in der Weser verunglückt war. Lisabeth Bröders, seine Köchin, hatte ihm davon erzählt. Aber inzwischen hatte er die Sache wieder vergessen.
„Wenn ihr den Heini mal besucht, grüßt ihn von mir“, sagte er. „Vielleicht gehe ich auch selbst mal hin. Schließlich ist er ja jetzt mein Schüler, nicht?“
Die Kinder nickten. Natürlich war Heini Brackwede jetzt der Schüler von Käpten Snieders, genausogut wie sie, auch wenn er wegen einer Querschnittslähmung gar nicht zur Schule gehen konnte.
Ludwig Reiners klappte das Klassenbuch zu und legte es auf das Pult zurück.
„Nur Heini fehlt“, sagte er, „alle anderen sind da.“
Der alte Kapitän schlug das Buch noch einmal auf. In der Spalte von Heini Brackwede stand sauber geschrieben und deutlich lesbar: „Kann wegen einer Querschnittslähmung die Schule vorläufig nicht besuchen.“
„Wer hat das geschrieben?“ fragte er und legte seinen dicken Zeigefinger auf die Spalte.
„Ich“, antwortete Ludwig Reiners. „Es ist alles richtig, Herr Heinecke hat es schon nachgeprüft.“
Käpten Snieders betrachtete den Sohn des Bürgermeisters mit Bewunderung.
„Soso“, sagte er, „na, dann kann ich mir ja die Kontrolle ersparen. Ein Logbuch muß auch ordentlich geführt werden, sonst erreicht man den Bestimmungshafen nie. Hast du noch mehr eingetragen?“
„Ja“, sagte Ludwig, „die Tabelle der Namen mit Geburtsdatum und so habe ich auch geschrieben.“
Käpten Snieders sah staunend auf die gleichmäßigen Buchstaben. Verstohlen ließ er dann den Blick auf seine derbe Seemannspranke gleiten. Nee, zum Schreiben war die nicht geeignet. Aber geschrieben werden mußte ja in dieses verdeubelte Buch! Da kam es wie Erleuchtung über ihn.
„Ludwig Reiners“, sagte er und blickte den Jungen mit seinen wasserblauen Augen listig an, „ich ernenne dich hiermit zum Ersten Offizier. Du unterstützt mich ab sofort in der Führung des Schiffes, indem du alle Vorkommnisse an Bord in dieses Logbuch einträgst, verstanden? Setz dich ’rüber auf die Steuerbordseite zum Knastermaat, da ist ja noch ein Platz frei!“
„Jawohl, Käpten“, rief Ludwig, „wird gemacht!“
Und strahlend ging er an seinen alten Platz, holte seine Büchertasche und setzte sich dann neben Kluten Neumann.
Nun konnte der Unterricht weitergehen. Jedenfalls erwarteten das die Kinder. Die Erzählung von dem Seeungeheuer war so kurzweilig und spannend gewesen, daß alle begierig waren, noch mehr von der Art zu hören.
Aber für mündlichen Unterricht gab es im Augenblick keinen zwingenden Grund, denn Minna, die schläfrige Dohle, war längst aufgewacht und hatte den Füllfederhalter Gesche Bödekers vom Gardinenbrett fallen lassen. Zum Glück hatte die Azalee, die auf der Fensterbank stand, ihn mit ihren Zweigen aufgefangen. Darum war er heil geblieben. Und so konnten alle wieder an dem Aufsatz weiterschreiben, den sie vor Käpten Snieders Erzählung begonnen hatten.
Die Kinder machten lange Gesichter. Schreiben war Arbeit, und Nachdenken strengte an, Zuhören war weitaus angenehmer. Aber Käpten Snieders ließ sich nicht einmal durch die Fangfrage Wilma Böttchers, ob es denn auch noch Ebbe und Flut gäbe, wenn das Tier mal gestorben wäre, erweichen: Er wollte, daß der Aufsatz gemacht wurde. Also neigten die Kinder an backbord ebenso wie die an steuerbord ihre Köpfe und begannen zu schreiben.
Und siehe, kaum waren drei Reihen gefüllt, da lief die Geschichte von selber weiter. Die Gedanken flogen ihnen zu, und die Sätze formten sich so rasch, daß sie mit dem Schreiben fast nicht
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