Käptn Snieders groß in Fahrt
Ursache unserer Beschleunigung zu suchen. Keiner außer dem Ausguck sah jedoch etwas. Dabei war die Fahrt mittlerweile beängstigend schnell geworden. Wir schossen dahin wie eine Gewehrkugel. Unsere Bark schwebte fast über dem Wasser. Die Segel aber, und ich sage euch, Leute, so was hab’ ich mein Lebtag nicht wiedergesehen, die Segel waren zum Heck hin geschwellt, so als ob der Wind von vorn käme. Etwas Unheimliches stand uns bevor, das merkten alle. Wir dachten an den Fliegenden Holländer und an das Ende der Welt, obwohl damals schon fast alle von uns wußten, daß die Erde eine Kugel ist und weder Anfang noch Ende hat. Aber in Augenblicken der höchsten Gefahr verläßt sich der Mensch nicht gern auf sein Wissen. Er zweifelt an sich selbst und an der Weisheit seiner Lehrer und fürchtet sich. Bald konnten wir uns nicht mehr verständigen, weil der Fahrtwind uns jedes Wort vom Mund riß.
Da endlich sahen wir, was uns erwartete!
Wie gebannt starrten wir in das aufgerissene Riesenmaul des gewaltigen Seeungeheuers, das durch sein Ein- und Ausatmen Ebbe und Flut bewirkt und mitten im Atlantik zu Hause ist. Oh, den Bremer Dom hätte man aufrecht mit seinen beiden Türmen in den Rachen des Tieres stellen können und hätte daneben noch Platz gehabt für die drei Blumenthaler Kirchen. In diesen gurgelnden Schlund würden wir in wenigen Minuten hineingerissen werden! Den sicheren Tod vor Augen, zitterten wir leise vor uns hin. Ade, Ritzenfleth, dachte ich, ade, Vadder und Mudder. Schon leuchteten die Augen des Ungeheuers wie Riesenvollmonde vor uns auf. Nun mußt du schon so jung sterben, dachte ich, und wolltest doch selbst noch so gern Kapitän werden. Tja, aber dann wurden wir doch noch gerettet, buchstäblich in letzter Sekunde!
Wißt ihr, wir hatten damals so einen ganz naseweisen Schiffsjungen an Bord, so einen Klugschieter, der alles besser wußte als wir und sogar Jan Bullerdiek, dem Kapitän, seine unreife Meinung ins Gesicht sagte. Dieser Wicht, den jeder von uns am liebsten dreimal täglich vertobakt hätte, weil er so unverschämt war, ausgerechnet der hatte den rettenden Einfall. Er verschwand mir nichts, dir nichts unter Deck und schleppte ganz allein zwei Zentner Niespulver nach oben, von dem feinen, extra starken. Dann gab er uns zu verstehen, daß wir das Teufelszeugs in die große Bordkanone schütten sollten, die wir sicherheitshalber im Bug stehen hatten. Die Zeiten waren auch damals schon unsicher. Als geladen war, zeigte er auf sein linkes Nasenloch und wies mit der andern Hand auf das Untier. Aber das war nicht nötig, denn wir hatten schon verstanden, was das Ganze werden sollte. Wie der Blitz sprang der Steuermann hinter die Kanone und zielte. Der Kapitän selbst betätigte den Auslöser. Wir fanden keine Zeit mehr, die Finger in die Ohren zu stecken, um das Trommelfell zu schützen, so schnell krachte der Schuß los. Und er war gut gezielt, kann ich euch sagen, denn das Ungeheuer bekam die ganze Ladung haargenau in das Nasenloch an backbord. Unser Steuermann, der konnte schießen, Donnerwetter noch einmal!
Wir standen wie angenagelt und vergaßen beinahe das Luftholen vor Spannung, was wohl geschehen würde.
Die Wirkung dieses Meisterschusses ließ auch nicht lange auf sich warten. Das Tier klappte sein Riesenmaul zu und nieste so weltuntergänglich, daß wir von der Wucht wie ein Federball in Richtung Europa gepustet wurden, mitsamt dem Schiff natürlich! Gott sei Dank waren alle so geistesgegenwärtig, sich an der Reling festzuhalten, sonst hätten wir doch noch Verluste zu beklagen gehabt.
Sieben Seemeilen vor Irland kamen wir wieder zum Stehen, wohlbehalten, nur die Segel unserer guten Bark glühten dunkelrot von der starken Reibung bei der schnellen Fahrt.
Wir zählten uns gegenseitig und stellten fest, daß niemand fehlte, nicht mal der verflixte Schiffsjunge. Da holten wir erst mal ganz tief Luft und dann ein Faß Rum auf Deck. Nach dem fünften Glas wurde der verdeubelte Schiffsjunge vom Kapitän höchstpersönlich zum Leichtmatrosen ernannt.
Als wir uns alle ein wenig beruhigt hatten, nahmen wir wieder Kurs auf Südamerika, hielten uns aber diesmal weiter südlich, um dem Ungeheuer nicht noch einmal zu begegnen. Auf unserer Seekarte machten wir bei zweiundvierzig Grad westlicher Länge und neununddreißig Grad nördlicher Breite ein Kreuz mit wasserfester Tinte. Das zeigte uns für alle Zukunft an, wo das Tier zu Hause ist.
Tja, und ihr wißt nun, wieso es Ebbe und Flut
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