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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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fiktionalen und bildlichen Keim {270} ganz und gar organisch zu entfalten hatte, ohne willkürliche Wendungen, Schematismen, implantierte Zufälle, überflüssige oder ablenkende Details und ähnliche Verunreinigungen. Für so unhintergehbar hielt Kafka dieses Gebot der Reinheit, dass er es niemals ausdrücklich begründete, und zu einer ausformulierten Ästhetik verspürte er weder Lust noch Fähigkeit. Doch alle seine einschlägigen Bemerkungen weisen in dieselbe Richtung. Charakteristisch etwa, wie er nicht lange vor dem Abbruch des VERSCHOLLENEN seine Bewunderung für Werfels Lyrik erklärt: »Wie ein solches Gedicht, den ihm eingeborenen Schluss in seinem Anfang tragend, sich erhebt, mit einer ununterbrochenen, innern, strömenden Entwicklung – wie reisst man da, auf dem Kanapee zusammengekrümmt, die Augen auf!« [231]   Umgekehrt wird sein Missbehagen am Schlussteil der VERWANDLUNG nur verständlich, wenn man bedenkt, dass Kafka nach dem Tod des Käfers Gregor die Perspektive aufbrechen und den Ort der Handlung verlassen musste, was seinen Sinn für formale Symmetrie offenbar störte. Ebenso wenig, und vermutlich aus den gleichen Gründen, befriedigte ihn der Schluss der STRAFKOLONIE.
    Kafka wollte mehr als Geschlossenheit, er wollte den »eingeborenen Schluss«, der schon unter der Oberfläche des ersten Satzes wie ein Fötus sich regt und zarte Konturen gewinnt. Das berechtigt zu der Überlegung, ob seine Romanprojekte die Möglichkeit derartiger innerer Einheit denn tatsächlich in sich trugen, ob sie, streng gefragt, überhaupt vollendbar waren und nicht vielmehr von Anbeginn dazu verurteilt waren, Fragment zu bleiben. Immerhin ist das ewige Verfehlen eines vorgefassten Zieles ja nicht nur das, was dem Romanautor Kafka zustößt, es ist zugleich auch das, was er beschreibt: Von der sicheren Seite der amerikanischen Gesellschaft entfernt sich der junge »Verschollene« umso weiter, je intensiver er davon träumt; unsichtbar bleibt das höchste Gericht für den Angeklagten, unerreichbar die Schlossbehörde für den Landvermesser. Wäre es nicht denkbar – auch wenn diese Vorstellung Kafka sicher fern lag –, dass nach einem verborgenen Gesetz das Scheitern des Autors dasjenige seiner Helden widerspiegeln musste, dass er also eine höhere ästhetische Einheit gerade dadurch schuf, der ersehnten Vollendung gerade dadurch näher kam, dass er seine Romane nicht vollendete?
    Eine verführerische These – nicht zuletzt deshalb, weil sie in einer geradezu ›kafkaesken‹ Weise paradox ist und dem Autor – hätte er je {271} das Vergnügen gehabt, an einem Kafka-Symposion teilzunehmen – womöglich sogar gefallen hätte. [232]   Ihre Schwäche ist, dass sie die Möglichkeiten des Romans unterschätzt, der in der Moderne doch gerade davon lebt, dass Form und Inhalt einander wechselseitig elektrisieren. Becketts Romane sind zweifellos abgeschlossene Gebilde von hohem Formbewusstsein – und doch erzählen sie ausschließlich von Fragmentierung, Zerfall und Untergang. Das redundante Geplapper seiner Figuren, die Gedankenfetzen, die in diesen isolierten Gehirnen aufleuchten, zerfasern und spurlos wieder verschwinden – all das ist das Ergebnis differenziertester Sprachkunst. Der Einwand, das seien eben keine Romane mehr, leistet dagegen gar nichts. Denn Beckett zieht die Konsequenz aus einer Entwicklung, die im europäischen Roman schon viel früher einsetzt: die Auflösung einer konsistenten inneren und äußeren Wahrnehmung, die Unterminierung jener fragwürdigen Einheit, die ›Ich‹ heißt. Und wo wäre in diesem Wirbel die historische Grenze zu ziehen, an welcher der Roman aufhört, Roman zu sein? Bei Hamsuns HUNGER? Bei Kafkas PROCESS? Bei Virginia Woolfs ORLANDO?
    Ein Roman, der vom Scheitern handelt, muss nicht scheitern, und die Möglichkeiten des Autors, diesen allzu schlichten Psychologismus zu widerlegen, sind unbegrenzt, glücklicherweise. Das war Kafka ganz selbstverständlich – und so verfiel er auch niemals auf den Gedanken, die rätselhafte Unfähigkeit, auch nur eine seiner großen literarischen Unternehmungen zu vollenden, habe mit deren Stoff und Struktur vielleicht doch etwas zu tun. Am »eingeborenen Schluss« fehlte es nicht; er wusste, worauf seine Romane hinausliefen. Doch immerzu riss das feinmaschige Netz, ehe es gespannt war. Er hielt das für Schwäche und Unfähigkeit, ein Fatum der eigenen Konstitution, und jedes erneute Scheitern bestärkte ihn darin. »Ich bin an der

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