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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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groß dimensionierte Katastrophen, die das Schicksal von Millionen von Menschen umpflügen, in den autobiographischen Zeugnissen nur geringfügige Spuren hinterlassen. Schon diese schwierige Quellenlage selbst gibt reichlich Anlass zu Spekulationen. Hatte denn Kafka jedes Interesse an Politik verloren? Blätterte er, wenn er das Prager Tagblatt zur Hand nahm, gleich weiter zum Feuilleton? War er so in private Probleme verstrickt, dass an ihm abprallte, was alle anderen erregte?
    Wohl kaum. Gerade in Prag, wo das öffentliche Leben fortwährend unter der Spannung des deutsch-tschechischen Gegensatzes stand, musste der Balkankrieg einen besonders empfindlichen Nerv treffen. Zahlreiche Tschechen zeigten offene Sympathie für die südslawischen {254} ›Brudervölker‹ und begeisterten sich an deren Erfolgen; die neoslawische Bewegung erlebte einen neuen Aufschwung, und es wagten sich sogar tschechische Freiwillige in die Kriegsgebiete, um humanitäre Hilfe zu leisten. Überall, wo Deutsche und Tschechen einander nicht aus dem Weg gehen konnten – zum Beispiel in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt –, war damit für neuen Zündstoff gesorgt, und selbst wenn Kafka jedes Mal die Ohren verschlossen hätte, wenn das Wort ›Balkan‹ fiel, hätte er sich der aufgeheizten Atmosphäre wohl kaum entziehen können. Er selbst dachte durchaus loyal, und die strategischen Interessen seines Staates ließen ihn keineswegs kalt. Schon am 27.Oktober gestand er Felice Bauer, die Meldungen über das türkische Debakel deprimierten ihn; denn: »es ist auch ein großer Schlag für unsere Kolonien«. Es befremdet beinahe, mit welcher Unbefangenheit Kafka hier die offizielle Sprachregelung übernimmt. Denn Österreich-Ungarn besaß ja überhaupt keine Kolonien … weshalb man mit diesem Begriff ersatzweise die 1908 annektierten und unmittelbar an Serbien angrenzenden Provinzen Bosnien und Herzegowina belegte – wo sich freilich österreichische Militärs und Beamte aufführten wie Kolonisatoren.
    Setzte sich Kafka mit seiner Familie zur gemeinsamen Mahlzeit, dann war natürlich auch hier vom Krieg die Rede, der Tag für Tag näher zu rücken schien. Beiderseitiger Aufmarsch an der galizisch-russischen Grenze, Mobilisierung der österreichischen Kriegsflotte, hektische Demonstrationen der Sozialdemokraten – die Signale waren eindeutig. Wenn aber Franz und der Schwiegersohn Karl ins Feld rückten – was sollte dann aus der Kafkaschen Asbestfabrik werden? Nicht auszudenken. Entnervt verschob man sogar die Hochzeit Vallis. Bis Ende des Jahres würde es ja wohl losgehen.

    War Kafka mit Freunden beisammen, dann war es unumgänglich, die täglichen Gräuelmeldungen in irgendeiner Form gemeinsam zu verarbeiten. Eine charakteristische Tagebucheintragung Brods findet sich unter dem Datum des 30.Oktober: »Mit Kafka spaziert, den das Unglück der Türken an seines erinnert.« Offenbar fand Brod es sonderbar, dass Kafka, der an sein eigenes Unglück gewiss nicht erinnert werden musste, selbst über einen Vorgang von historischer Tragweite nicht abgelöst vom eigenen Erleben sprechen konnte. Was zur Folge hatte, dass ihn die Bilder der Soldaten, die er offenbar lange und genau betrachtet hatte, seit Tagen bis in den Schlaf verfolgten. [214]   Während {255} Brod, ganz im Gegenteil, möglichst rasch zu allgemeinen Folgerungen vorzustoßen suchte, um das unmittelbare Entsetzen abzuschütteln. Dass er als Kommentar zu den Ereignissen ein so pennälerhaftes Gedicht wie ›Weltgeschichte‹ in der Aktion präsentierte – und erst recht, dass deren Redakteur Pfemfert es abdruckte –, ist nur mit der allgemeinen Verlegenheit zu erklären, für das Grauen überhaupt einen adäquaten Ausdruck zu finden.
So haben sie’s getrieben die Millionen,
Wie sie der Erde Schoss seit je gebar,
So treiben sie’s, die heute sie bewohnen,
Und eines dünkt mich da nur wunderbar:
In all den kampfdurchschütterten Aeonen
Dass sie sich nicht vernichtet ganz und gar.
    Dies die letzten beiden von vier Strophen. Was alle als neu empfinden, rückt Brod in die Perspektive einer anthropologischen Ewigkeit, so weit vom eigenen Leib wie möglich. Und »das Unglück der Türken« gemahnt ihn an das Unglück aller, die je gelebt haben. Ein stärkerer Gegensatz zu den geistigen Reflexen seines Freundes ist kaum vorstellbar. Wie Kafka diese Verse kommentiert hat – man wüsste es gern.

    Jener Krieg, dem im Sommer 1913 noch ein blutiges Nachspiel folgte, als Bulgarien,

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