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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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endgiltigen Grenze«, schrieb er nach dem Abbruch des PROCESS, »vor der ich vielleicht wieder Jahre lang sitzen soll, um dann vielleicht wieder eine neue, wieder unfertig bleibende Geschichte anzufangen. Diese Bestimmung verfolgt mich.« [233]  
    Man muss das ernst nehmen. Nach mehr als anderthalb Jahrzehnten Erfahrung mit den undurchdringlichen Gesetzen des ›Schreibens‹ wusste Kafka, dass keineswegs nur Inspiration, sondern auch schiere psychische Energie, ja sogar eine Art von willentlicher Besessenheit vonnöten ist, um über Monate hinweg der einmal begonnenen Arbeit {272} immer neue Leidenschaft und Konzentration abzugewinnen. Doch jener überwache und zugleich exaltierte Zustand, den er seit der Nacht, in der DAS URTEIL entstand, als Ideal des Schöpferischen kannte, war zwangsläufig begrenzt und schuf seine eigenen, inneren Hemmnisse: Das Schreiben selber minderte die Spannung, der unmittelbare Anlass, der die psychischen Tiefen lust- und qualvoll aufgerissen hatte, wurde allmählich von neuen, anderen Erfahrungen überdeckt, und schließlich entwickelte das unfertige Werk ein eigenes Kraftfeld, stellte fremde Forderungen, wandelte sich bald vom Spiel zur Aufgabe.
    Aber gilt das nicht für jedes Werk, für jeden Autor? Er beginnt einen Roman unter diesen Umständen und beendet ihn unter jenen . Er sucht eine Form, die dauert, die unabhängig von ihrem Urheber bestehen kann, und daher muss er sein Werk schützen vor dem zersetzenden Einfluss lebensgeschichtlicher Kontingenz. Das gilt erst recht dann, wenn er selbst Gegenstand seines Schreibens ist. Kein einziger ungelenker Satz, keine Floskel, keine schiefe Metapher ist dadurch entschuldbar, dass es ihrem Autor schlecht erging, als er sie guthieß. Selbstdistanz gehört zu den unabdingbaren Voraussetzungen des Schreibens, ist gleichsam der psychische Humus, auf dem dieses Handwerk überhaupt erst gedeihen kann. Beherrschte Kafka sein Handwerk nicht?
    Sicher war er sich dessen kaum jemals. Als er Anfang März 1913, sechs Wochen nach Abbruch des VERSCHOLLENEN, in den beiseite gelegten Heften blätterte, glaubte er zu entdecken, dass nur das erste Kapitel, DER HEIZER, »aus innerer Wahrheit herkommt«, während alles Übrige, immerhin 350 Manuskriptseiten, »gleichsam in Erinnerung an ein grosses aber durchaus abwesendes Gefühl hingeschrieben und daher zu verwerfen« sei, »unwiderlegbar«, Punktum. Eine andere Auskunft erlangte auch Kurt Wolff nicht, der den VERSCHOLLENEN sehr gern verlegt hätte, von Kafka aber nur den HEIZER erhielt, und selbst diesen noch mit der ausdrücklichen Anweisung, ihn als ›Fragment‹ kenntlich zu machen (was schon damals nicht sonderlich verkaufsfördernd war). [234]  
    Was eigentlich hatte sich Kafka vorzuwerfen? Dass nicht ein »Gefühl« ihn geleitet hatte, sondern die Erinnerung daran – mit anderen Worten: das Dazwischentreten des Bewusstseins. Eine scheinbar absurde Kritik. Denn im Verlauf von mehr als einem Jahr – so lange {273} schon beschäftigte ihn sein Amerika-Projekt, die erste, verworfene Fassung des Romans mit eingerechnet – war es doch überhaupt nicht zu vermeiden, dass die ersten, unmittelbaren Impulse und Phantasien überlagert wurden von Reflexionen, Erinnerungen, Rückwirkungen des Textes selbst. Hätte er diese Zeit im grabesstillen Innersten eines Kellergewölbes verbracht, wie er es sich so provokativ gewünscht hatte, es wäre ihm nicht anders ergangen. Und hätte er sich den düsteren Bildern, die ihn gegen Ende des Jahres immer stärker bedrängten, gleichsam bewusstlos überlassen, um nur ja aus dem unmittelbaren »Gefühl« zu schreiben, dann wäre DER VERSCHOLLENE über die ersten zwei oder drei Kapitel wohl kaum hinausgelangt.
    Doch Kafkas Texte waren seinen akuten Stimmungen und Sorgen keineswegs so rückhaltlos ausgeliefert, wie es das Bild des in sich versponnenen ›Dichters‹ uns weismacht. Die zunehmende Verdüsterung, der er sich vergeblich entgegenstemmte, der Einbruch von Zwangsvorstellungen, der psychische Rückzug, die nachlassende Lust an der Erfindung – all das hat im VERSCHOLLENEN unübersehbare Spuren hinterlassen, gewiss, und nichts, gar nichts weist im eleganten Salon des Kapitäns, dem Gerichtsort des HEIZERS, voraus auf die dämmrige Wohnhöhle Bruneldas, wo der strebsame Karl nur wenige Monate später seinen unappetitlichen, vom Autor selbstquälerisch ausgemalten Dienst versieht. Realität und Mythos treten auseinander, geraten in Gegensatz, und allmählich

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