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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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männlichen ›Waffengang‹ und diesem blinden Gemetzel; zu schweigen von der Erbärmlichkeit einer Armeeführung, der nichts Besseres einfiel, als Dorfbrunnen zu vergiften, um den Feind an der Verfolgung zu hindern.
    Solche Töne waren charakteristisch für die liberalen Zeitungen vor allem Deutschlands und Österreich-Ungarns, und die Leser, die zum ersten Mal fast live über das Kampfgeschehen unterrichtet wurden, {252} nahmen es als psychische Entlastung dankbar hin, wenn ihnen im politischen Kommentar gleich neben den Gräuelberichten versichert wurde, dies sei kein eigentlicher Krieg. Es war nicht schwer, solche Illusionen am Leben zu erhalten. Die bürgerliche Öffentlichkeit hatte kein Bewusstsein von der Realität des Krieges, sie kannte ihn aus den zumeist heroisch veredelten Erinnerungen der Großväter und aus Schulbüchern. So mussten ihnen der ›Bruderkrieg‹ Habsburg gegen Hohenzollern (1866) und der Krieg gegen Frankreich (1870/71) wie kollektive Duelle erscheinen – blutig zwar, aber nach anständigen Regeln geführt und mit eindeutigem Ergebnis. Nahezu vollständig ausgeblendet blieb die schäbige, schmutzige Seite des Krieges, die psychische Verrohung, die Folter des Schlafentzugs, die Amputationen, die Schreie, Gestank, Dreck, Seuchen, Ungeziefer, Demütigungen, Vergewaltigungen. Dass auch die eigenen militärischen Führer den Terror und das wahllose Töten als Mittel des Krieges von vornherein ins Kalkül zogen, wurde, wenn es denn einmal ans Licht kam, so schnell wie möglich verdrängt. Vergessen die ›Hunnenrede‹ Wilhelms II. aus dem Jahr 1906, der seinem nach China aufbrechenden Expeditionskorps einschärfte: »Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht.« Vergessen die Massaker der Italiener (mit denen man doch immerhin verbündet war) an der Bevölkerung Libyens – und das lag erst wenige Monate zurück. In den Kolonien durfte man eben keine allzu strengen Maßstäbe anlegen.
    Umso ausführlicher wurde in den Straßen und Cafés darüber gestritten, was man von der neuen, frechen Eigenmächtigkeit der Balkanländer halten sollte, die man bisher nur als Spielfiguren der europäischen Großmächte gekannt hatte. Eine konzertierte und derart erfolgreiche Aktion unterentwickelter Operetten-Monarchien, das konnte doch nur ein Schachzug der Russen sein, die die Schwäche der Türken nutzten, um das Habsburgerreich endgültig in die Zange zu nehmen.
    Dieses primitive, allein an der Geographie orientierte und von der Bevölkerung der handelnden Staaten völlig abstrahierende Denken beherrschte in höchstem Maß auch die Machtzentren in Wien. Niemand verfiel auf den Gedanken, dass künftige wirtschaftliche Verflechtungen die historisch versteinerten Feindbilder ohnehin obsolet machen würden. Nein, ein bis an die Adria reichendes Großserbien als südlicher Nachbar, das war der politische Albtraum schlechthin, {253} dessen Verhinderung auch das Risiko eines großen Krieges gegen Russland rechtfertigte. Hätte die Entscheidung allein beim Generalstab gelegen, dessen Führung jetzt erneut Franz Conrad von Hötzendorf anvertraut wurde, einem der rigorosesten Kriegstreiber – dann hätte der Erste Weltkrieg schon im November 1912 beginnen dürfen. Allein die beständigen, überwiegend hinter den Kulissen verborgenen Interventionen von deutscher Seite hielten die Österreicher von einem Einmarsch in das ›Schlachthaus‹ letztlich ab, wenngleich die entsprechenden Drohgebärden noch bis ins Frühjahr 1913 immer wieder erneuert wurden. Nur mit knapper Not wurde der unmittelbare Zusammenprall zwischen Österreich-Ungarn und Russland, der bereits bis zu beiderseitigen Teilmobilisierungen gediehen war, noch einmal abgewendet.
    Feldmarschall Conrad von Hötzendorf wird den klugen Deutschen dankbar dafür gewesen sein, dass sie den unvermeidlichen Krieg auf eine spätere, günstigere Gelegenheit verschoben hatten. Denn am 25.Mai 1913, wenige Tage vor der endgültigen Beendigung des Balkankrieges, nahm er mit kreideweißem Gesicht die Meldung entgegen, dass sein eigener Spionagechef, ein gewisser Oberst Redl, den Aufmarschplan der österreichisch-ungarischen Armee seit langem an die russischen Militärs verkauft hatte. Man wäre in ein offenes Messer gelaufen. [213]  

    Die Einwirkung politischer Ereignisse auf die äußere und innere Existenz eines Einzelnen zählt zu den schwierigsten methodischen Problemen jeder Lebensbeschreibung. Erst recht dann, wenn, wie im Fall Kafkas, selbst

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