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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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unzufrieden mit der Verteilung der immensen Beute, sich gegen seine serbischen Bundesgenossen wandte und unter weiteren ungeheuren Opfern alles wieder verspielte – jener Krieg wird im kollektiven Gedächtnis Mitteleuropas ganz und gar überschattet von der vierjährigen Nacht des Ersten Weltkriegs. Für die Zeitgenossen, von denen viele ahnten, dass es sich um eine Art Generalprobe handelte – tatsächlich nutzte ja die Rüstungsindustrie den Balkan als willkommenes Testgelände für ihre neuesten Produkte –, stellte sich dies völlig anders dar, und auch noch nach dem verlorenen großen Krieg war der Schock von 1912 keineswegs vergessen. Es war, als sei auf dem Marktplatz eine Guillotine errichtet worden, ohne dass man wusste, für wen. Man konnte die Augen davon abwenden, aber nicht die Gedanken. Dafür sorgten nicht zuletzt die schnell gewordenen Medien, die Frontfotografen, die Kriegsberichterstatter, denen die anfängliche, von Karl Kraus erbittert angeprangerte Abenteuerlust schnell vergangen {256} war. Selbst der gewiss nicht dünnhäutige Egon Erwin Kisch, der im Mai 1913 für die Prager Bohemia den Balkan bereiste, war nicht mehr fähig, seinen Lesern mit der gewohnt flotten Schreibe über die niederschmetternden Bilder hinwegzuhelfen, die sich ihm boten. Und es ist durchaus wahrscheinlich, wenn auch nicht zu belegen, dass Brod und Kafka von ihm noch mehr und Undruckbares aus erster Hand erfuhren.
    Freilich, ist schon die unmittelbare psychische Wirkung eines derart beunruhigenden Ereignisses aus der Distanz mehrerer Generationen kaum zu bemessen, so noch viel weniger die Wirkung eines drohenden Ereignisses. So bleibt auch unentscheidbar, in welchem Maß die ständige Kriegsgefahr auf Kafkas extreme Stimmungsschwankungen letztlich einwirkte. Dennoch bliebe unser Bild von dieser eruptiven Phase seines Lebens unvollständig, wenn wir außer Acht ließen, dass in den Monaten der heftigsten Werbung um Felice Bauer, in den Wochen, da DIE VERWANDLUNG und der größere Teil des VERSCHOLLENEN entstand, in den Tagen der ersten öffentlichen Anerkennung als Schriftsteller – dass ausgerechnet zu dieser Zeit einer lange ersehnten, wenn auch qualvollen Intensität Kafka Tag für Tag damit rechnen musste, dass dies alles durchkreuzt und sein Leben bis in die intimsten Verästelungen einem anonymen Willen ausgeliefert würde. Einem blinden, unwissenden Willen überdies, wie wir heute mit Bestimmtheit wissen. Wie nahe die Option eines frühen, von Oberst Redl noch beschleunigten Todes auf den gefrorenen Feldern Galiziens tatsächlich gewesen war, ging den ›wehrfähigen‹ Männern des Habsburgerreichs erst zwei Jahre später auf.

{269} DER VERSCHOLLENE:
Perfektion und Untergang
Mich widert das Schreiben an, aber ich finde es wunderbar, geschrieben zu haben .
FREDERICK BROWN
    DER VERSCHOLLENE, DER PROCESS, DAS SCHLOSS, DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN, FLUSS OHNE UFER – die fünf Großruinen der modernen, deutschsprachigen Epik. Drei davon hat Kafka hinterlassen: eine lebensgeschichtlich düstere, aus der Höhe der vergleichenden Literaturhistorie betrachtet geradezu bizarre Bilanz, die nach Erklärung verlangt.
    Dass Kafka, der bisweilen Selbstsabotage in raffiniertester Form betrieb, die Vollendung seiner großen Projekte wollte , daran lassen die überlieferten Dokumente nicht den geringsten Zweifel. Auch wenn seine Klagen immer wieder um den Akt des Schreibens kreisten, wenn er abgeschlossene Texte oft monatelang nicht mehr zur Hand nahm, ja scheinbar sogar vergaß: Was letzten Endes zählte, war nicht die Arbeit, sondern deren Ergebnis. Der Weg war nicht das Ziel, durchaus nicht, daran musste niemand ihn erinnern. Und weder die lustspendende Entgrenzung, das Schreiben als Droge, noch dessen selbsttherapeutische Effekte hätten Kafka auf Dauer je zufriedengestellt.
    Auch ist es eine Legende – und dient ausschließlich den identifikatorischen Bedürfnissen eines pseudoromantischen Literaturbegriffs –, dass Kafka das Scheitern im Allgemeinen und den fragmentarischen Charakter seiner Romane im Besonderen als den angemessenen Ausdruck seines ästhetischen Verlangens oder gar seiner selbst betrachtete. Das Gegenteil ist wahr. Was er aufs höchste bewunderte und was er beharrlich – fast möchte man sagen: unbelehrbar – bis in seine allerletzten Versuche anstrebte, war vollkommene formale Geschlossenheit im Kleinsten wie im Größten. Das bedeutete vor allem, dass ein literarischer Text sich aus seinem

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