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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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entgleitet Kafka der Traum einer neuen, reineren Welt. Staub weht herein, der Staub des alten, überheizten Europa. Dennoch gelingt es ihm, diese allmähliche Eintrübung über lange Passagen hinweg so geschickt in den ursprünglichen Plan zu integrieren, dass kein Leser auf den Gedanken verfallen wird, hier herrsche die Willkür eines unbeherrschten Erzählers. Im Gegenteil: dass der Roman, je tiefer sein Protagonist fällt, ein gleichsam immer schmutzigeres Grau annimmt; dass die perversen Einsprengsel sich häufen, je hoffnungsloser und abgeschlossener die geschilderten Situationen werden; dass mit der Gestalt Bruneldas eine alles andere als ›amerikanische‹ Körperlichkeit sich vordrängt; dass die Balance zwischen Komik und Grausamkeit, die noch im Getriebe des gigantischen ›Hotel occidental‹ so vollendet slapstickhaft scheint, immer mehr sich zugunsten eines bleiernen Tableaus verschiebt – all dies erzeugt den Schwindel des Sturzes, des Fatums , viel intensiver, als jede naturalistische Milieuschilderung es hätte leisten können. Und es erzeugt {274} Geschlossenheit , und zwar in solchem Maß, dass der misstrauische Leser, der zurückblättert und den HEIZER zum zweiten Mal sich vornimmt, dort nun plötzlich die Drohungen zu entdecken glaubt, die sich später bewahrheiten.
    Was Kafka quälte, weil er es für sein eigenstes Versagen hielt, war in Wahrheit ein grundsätzliches ›produktionsästhetisches‹ Hindernis. Valéry hat in einer seiner zahlreichen Notizen zu den Entstehungsbedingungen von Lyrik dieses Problem auf den genauesten Begriff gebracht:
»Es geschieht häufig, dass ein Dichter von einem einzigen Vers aus ein längeres Gedicht macht. […] Eingefallen war er ihm in einem Zustand recht ähnlich dem Traum, abgeschlossen und abgesondert […] Mit diesem Vers gilt es nun ein Gedicht zu machen. Und da setzt der Roman ein, es wird ausgebaut, abgestimmt – usw., und die Schwierigkeit liegt darin, in einen Zustand zurückzufinden, der des ersten würdig ist. Im Fortsetzen steckt der Teufel.« [235]  
    Das hätte Kafka sofort unterschrieben. Denn was Valéry hier »Roman« nennt (den er zeitlebens gering schätzte), ist das Moment des Handwerklichen, der literarischen Technik: Der erste Vers wurde gefunden , die weiteren werden gemacht . Aber das kann nicht im Traum geschehen, denn es verlangt Bewusstheit, Distanz, Kalkül. Darum ist das »Fortsetzen« unvermeidlich von Trauer begleitet, Trauer um die Freiheit und die Lust reinen Hervorbringens.
    Kafka mangelte es nicht an Einfällen, sondern an ›Fortsetzungen‹. Und es ist sicher kein Zufall, dass die Einfälle erst dann versiegten (im Januar 1913), als die technischen Probleme des Fortsetzens wirklich bedrängend wurden. Dass Kafka, im Gegensatz zu so vielen anderen, psychisch kaum weniger fragilen Autoren, an der Hürde der Erzähltechnik immer wieder scheiterte, lag nicht allein am Schwinden der Inspiration oder an seiner Abhängigkeit von der eigenen inneren Verfassung. Es lag vor allem an der Art der selbst gestellten Aufgabe. Denn was Kafka seinen Texten abverlangte – und was er, beginnend mit dem URTEIL, in seinen vollendeten Erzählungen auch weitgehend verwirklichte –, war ja sehr viel mehr als die Geschlossenheit der äußeren Form: Es war ein möglichst lückenloser Verweisungszusammenhang im Inneren, die vollkommene Vernetzung aller Motive, Bilder, Begriffe. Es gibt bei Kafka keinerlei erzählerische Rückstände, keine blinden Motive, keine bloß illustrativen Einzelheiten – ganz {275} gleich, ob es sich um die Farbe eines Kleidungsstücks handelt, um eine charakteristische Geste oder lediglich um die Angabe der Uhrzeit. Alles bedeutet etwas, alles verweist auf etwas, alles kehrt wieder. In Hartmut Binders KAFKA-KOMMENTAR sind Tausende von Belegstellen versammelt, die nicht den geringsten Zweifel daran lassen, dass der Eindruck verblüffender Perfektion, den Kafkas Texte immer aufs Neue erregen, vor allem formalen Qualitäten sich verdankt, einer hohen spezifischen Dichte gleichsam, einem Bedeutungsdruck, der eine unterhaltende, bloß genießerisch nachschmeckende Lektüre keinen Augenblick zulässt. Daher wohl auch die auffallende Polarisierung zwischen Begeisterung und Abwehr, die Kafkas Dichtungen vor allem unter jüngeren, unerfahreneren Lesern hervorruft. Denn wem sich das visionäre, traumhafte Moment dieser Texte nicht erschließt, dem wird der erzählerische Aufwand nur als ›angestrengt‹ erscheinen.
    Eine

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