Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
Kafka für Fatalismus hielt, war nicht zuletzt das halbbewusste Gefühl eigenen Ungenügens. Sehr wahrscheinlich, dass Felice gerade diesen {338} Vorsprung des Prager Freundes noch eigens herausgestrichen hatte, um die Intensität ihres Briefwechsels zu rechtfertigen, und dabei brauchte sie nicht einmal zu übertreiben.
Denn dass in Kafka »Großes steckte«, wie sie einmal geschrieben hatte, davon war sie nach wie vor überzeugt, und da sie dieses Potenzial viel besser einschätzen konnte als ihre Familie, die ja nur aus zweiter Hand davon wusste, setzte es sie auch in größere Verlegenheit. Für Kafka war es jenseits aller Vorstellungskraft, dass jemand ausgerechnet ihm gegenüber sich klein und unterlegen fühlen könnte; und doch hatte Felice immer wieder solche Anwandlungen, und umso häufiger, je näher die Entscheidung rückte. Sie fürchtete, ihm in einer Ehe nicht zu genügen. Kafka aber griff sich an den Kopf, wenn er dergleichen hörte. »Ich bin ja nichts, gar nichts«, rief er aus [298] – aber was half das, wer wollte denn so etwas wörtlich nehmen, für einen Kretin hätte sie ihn halten müssen, hätte sie all die Selbstverkleinerungen, ja Selbstbeschimpfungen für bare Münze genommen.
So richtete er, ohne es zu bemerken, eine Barriere auf, an der er sich schmerzhaft stieß, sobald er Felice gegenübertrat. Einen gemeinsamen Ausflug nach Nikolassee hatten sie dem Verlobungstrubel abgewinnen können, immerhin. Doch als sie mit ihm allein war, wurde sie still, und wie schon im Grunewald sieben Wochen zuvor ergriff »dieses sonst selbstsichere, raschdenkende, stolze Mädchen eine matte Gleichgültigkeit«. Sie fragte wenig und vermied es, ihm in die Augen zu sehen. [299] Vielleicht bemerkte sie, wie insgeheim auch Kafka, den Mangel an sexueller Attraktion, womöglich spielte Schüchternheit hinein, erotische Unreife, vielleicht auch nur Unerfahrenheit. Wir wissen es nicht. Gewiss aber ist, dass Felice, die zu Hause Kalauer zum Besten gab, die perfekt das Sächseln von Kollegen nachahmte und die im Berliner Witz Entlastung fand, wenn der allseitige Druck gar zu massiv wurde – gewiss ist, das diese »kindische Dame«, wie sie wohl einmal sich selbst charakterisierte [300] , von ihren vitalsten Ausdrucksformen sich abgeschnitten fand. Man alberte nicht herum mit einem fremden Herrn, und schon gar nicht mit einem, der sich auszudrücken verstand wie Kafka und der einen Ernst und eine Dringlichkeit ausstrahlte, die sie niederdrückten. Ja, sie litt unter ihm, da hatte er Recht, aber nicht ein Zuwenig war es, vor dem sie den Blick senkte, sondern ein Zuviel . Kafka war eine Aufgabe, eine Prüfung, aber anders, als er diese Worte verstand. Sie wusste es nicht auszudrücken. Und so verstummte schließlich auch er.
Von Heirat wurde nicht gesprochen. Felices Mutter wunderte sich darüber. Dann habe ja wohl, konstatierte sie, dieser aufwendige Besuch weder Sinn noch Zweck gehabt. Das erfuhr nun wieder Kafka, dem das Schlusswort blieb: »Deiner Mutter sag: Sinn und Zweck hatte die Reise, aber keinen Menschen, der sie ausführte.« [301]
Felix Weltsch, den Kafka jetzt beinahe öfter sah als Brod, hatte einen glänzenden Einfall. »Du brauchst einen Curator«, sagte er, als sie sich am Ufer der Moldau trafen. Einen Vormund also. Ein Gedanke, der Kafka sogleich einleuchtete. Denn alle Entscheidungen zu delegieren, alles los zu sein mit einem Schlag, das war die einzige konkrete Form der Erlösung, die er sich noch vorstellen konnte. Wo aber war der Curator, der diesen Knoten hätte lösen können? Das Büro, das Schreiben, die Ehe. Kündigte er seinen Posten in der Versicherung – eine Versuchung, mit der er jetzt beinahe täglich zu kämpfen hatte –, so war es noch höchst zweifelhaft, ob mit der Freiheit zu schreiben auch die Fähigkeit zurückkehren würde, während alle Träume von Ehe und Familie in unabsehbare Ferne rückten. Auf Felice verzichten? Er wagte nicht, diese Niederlage und die darauf folgende, wahrscheinlich dauernde Einsamkeit sich vor Augen zu stellen. Das Schreiben rationieren, zurückstutzen auf eine Art Hobby, »mit Maß und Ziel«, wie Felice es sich vorstellte? Das war, äußerlich betrachtet, das Naheliegende. Außer Briefen schrieb er doch schon seit Monaten nichts mehr – und lebte dennoch. Doch dieser Durst war unerbittlich, und Kafka wusste, dass er, vor die allerletzte Wahl gestellt, sich eher gegen das Leben als gegen das Schreiben entscheiden würde.
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