Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)
ist befremdend – und berührt auch den konzilianten Leser nicht eben angenehm –, wie Kafka in kritischen Situationen sich tatsächlich immer wieder unter Kuratel stellt und damit von eigener Verantwortung zu entlasten sucht. Schon wieder lässt Felice eine volle Woche lang nichts von sich hören – was tut Kafka? Er klagt darüber so lange seinem Freund Max, bis dieser Erbarmen zeigt und in Berlin interveniert, wie nicht zum ersten Mal. Warnungen vor gesundheitlichen Malaisen, selbst Anspielungen auf sexuelle Unzulänglichkeit tut sie leichthin ab, ja, sie scheint nicht einmal zu verstehen, dass sie in einer Ehe von diesen Problemen tangiert wäre – was tut also Kafka? Er beschließt, an ihren Vater zu schreiben, an den gutmütigen Carl Bauer, den er von einem einzigen formellen Zusammentreffen kennt, der sich {340} Kafkas Probleme nicht im Entferntesten ausmalen kann, ausgerechnet ihn will er um Rat bitten und – man glaubt, nicht recht zu lesen – um die Adresse eines vertrauenswürdigen Arztes. Und es kommt noch schlimmer. Dieser Brief, so verspricht Kafka, soll natürlich erst durch die Hand Felices gehen, denn »ich will mich nicht hinter Deinen Vater stecken«. Aber kurz darauf muss er gestehen, dass er noch eine weitere Leserin hinzugezogen hat, nämlich seine Mutter, bei der doch, wie er eben noch versichert hat, »in ihrer nur auf mich und den Augenblick eingeschränkten Kurzsichtigkeit … kein Rat zu holen« ist. [302]
Es ist seine persönlichste Angelegenheit, und dennoch zieht er andere mit hinein, ebenso berechnend wie naiv, als sei der intime Radius, den er auf engstem Raum sich hatte erkämpfen müssen, die spielerische Abgrenzung eines Kindes gewesen, eine Linie im Sand. Man muss darin wohl ein Symptom der Überforderung sehen. Kafka regrediert, er greift nach dem nächstbesten Strohhalm: Max, Ottla, Julie. Er ist umgeben von Menschen, die, wenn nicht fähig, so doch willens sind, ihm zu helfen. Das ist eine Versuchung, unleugbar, und sie ist dort am größten, wo Hilfe ohne jeden reflexiven Vorbehalt, ja beinahe instinktiv geboten wird. Doch an einem Menschen kann man sich nicht aufrichten wie an einer Wand. Der Helfer will handeln, und er folgt dabei seinem eigenen Kopf. Das ist die Lektion, die Kafka jetzt endlich lernen wird, schmerzhaft.
8.Juni 1913: Die Entscheidung ist gefallen. Kein Zweifel, dass die wenigen, die davon wussten, Kafka zugeredet hatten. Er musste aktiver werden, verbindlicher. Man kann einen Menschen nicht hinhalten, bis der Zeiger der inneren Uhr endlich vorrückt; die äußere, die soziale Zeit verrinnt, und sie nagt an allen Beziehungen umso nachhaltiger, je unklarer diese sich selber sind. Es gibt Handlungsmuster, die diesem Verfall vorbeugen und die man nicht straflos außer Kraft setzen kann. Auch für das Werben um eine Frau gibt es solche Muster, ein verborgenes Flussdiagramm gleichsam, an dem Beteiligte und Zuschauer ablesen können, wie weit das Spiel gediehen ist und wer aktuell die Verantwortung dafür trägt, dass es ›weitergeht‹. Mittels Briefen hatte man sich abgetastet und schätzen gelernt; ein Präludium, das schon allzu lange dauerte. Dann das erste Gespräch, der Spaziergang im Grunewald. Dann die Einladung Felices, sich ihrer Familie zu präsentieren. Äußerlich war alles gut verlaufen, die Bahn war frei. Doch die unvermittelt {341} einsetzende Flaute, das befangene Schweigen der Geliebten nebst einigen kleinen, kaum misszuverstehenden Anspielungen ließen keinen Zweifel daran, dass nun ›der Mann‹ am Zug war.
Es schien ihm, als öffnete sich überraschend eine Tür, und dahinter lag undurchdringliches Dunkel. Er zwang sich hinzusehen. Endlich setzte er sich an den Schreibtisch, ergriff die Feder und nahm Anlauf.
»Du erkennst doch schon gewiss meine eigentümliche Lage. Zwischen mir und Dir steht von allem andern abgesehn der Arzt. Was er sagen wird ist zweifelhaft, bei solchen Entscheidungen entscheidet nicht so sehr medicinische Diagnose, wäre es so, dann stünde es nicht dafür sie in Anspruch zu nehmen. Ich war wie gesagt nicht eigentlich krank, bin es aber doch. Es ist möglich, dass andere Lebensverhältnisse mich gesund machen könnten, aber es ist unmöglich diese andern Lebensverhältnisse hervorzurufen. Bei der ärztlichen Entscheidung (die, wie ich schon jetzt sagen kann, nicht unbedingt für mich Entscheidung sein wird) wird nur der Charakter des unbekannten Arztes entscheiden. Mein Hausarzt z.B. würde in seiner
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