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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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stupiden Unverantwortlichkeit nicht das geringste Hindernis sehn, im Gegenteil; ein anderer besserer Arzt wird vielleicht die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Nun bedenke Felice, angesichts dieser Unsicherheit lässt sich schwer das Wort hervorbringen und es muss sich auch sonderbar anhören. Es ist eben zu bald, um es zu sagen. Nachher aber ist es doch auch wieder zu spät, dann ist keine Zeit mehr zur Besprechung solcher Dinge, wie Du sie in Deinem letzten Brief erwähnst. Aber zu langem Zögern ist nicht mehr Zeit, wenigstens fühle ich das so und deshalb frage ich also: Willst Du unter der obigen leider nicht zu beseitigenden Voraussetzung überlegen, ob Du meine Frau werden willst? Willst Du das?« [303]  
    Angesichts der Unsicherheit zu früh. Zur Besprechung der Dinge zu spät. Unter der obigen Voraussetzung. Das war Krampf, beinahe das Gespenst eines Amtsschreibens. Kafka bemerkte es, stockte, ließ den angefangenen Brief tagelang liegen.
    Dann raffte er sich wieder auf. Die Verantwortung war zu groß, um Felice in einem solchen Nebel allein zu lassen, und darum begann er, noch einmal alle Konsequenzen ihr vor Augen zu führen, die sie mit einem ›Ja‹ heraufbeschwören würde: das Zusammenleben mit einem zutiefst unreifen, unzufriedenen, einsamen, selbst gegenüber Freunden befangenen, sozial unfähigen Menschen, der Verlust der vertrauten Umgebung, des Berufs, der Freundinnen – und all dies ohne Aussicht auf die Freuden der Mutterschaft. Daneben der Verzicht auf manche Bequemlichkeit: Kafka beziffert sein Einkommen, erwähnt {342} seinen Pensionsanspruch, von den Eltern hat er wenig Vermögen zu erwarten, »von der Literatur gar nichts«. Alles breitet er noch einmal aus, eindringlich und präzis, selbst Metaphern meidet er diesmal, denn niemand soll sagen können, er habe die geringste Unklarheit gelassen. Schließlich, auf der letzten von achtzehn Seiten, bittet er um ausführliche Antwort, und wenn nicht ausführlich, so wenigstens »klar, wie es Deinem doch im Grunde klaren, nur durch mich ein wenig getrübten Wesen entspricht«.
    Kafka setzte seinen Vornamen darunter, grußlos, und schloss den Brief. Länger als eine Woche hatte sein Hirn daran gearbeitet, nun war es genug. Es war der Nachmittag des 16.Juni, ein Montag. Ungewohnt still war es in der Kafkaschen Wohnung; Ottla war im Geschäft, die Eltern erholten sich seit zwei Wochen in Franzensbad. Kafka kleidete sich nochmals an, er hatte versprochen, in der familieneigenen Galanteriewarenhandlung ab und zu nach dem Rechten zu sehen, angeblich war es günstig, wenn das Personal wenigstens den Sohn des Chefs, den Herrn Doktor, zu sehen bekam; weiß Gott, was sich der Vater davon versprach. Den Brief würde er dann später zur Post bringen.
    Doch gerade heute gab es etliches zu tun, und als Kafka endlich aus dem Geschäft trat, den schweren Brief in der Hand, waren alle Ämter längst geschlossen. Blieb der Staatsbahnhof: Dort konnte man selbst in letzter Minute noch Post am Gepäckwagen des Berliner Schnellzugs abgeben. Er machte sich auf den Weg, mit gewohnt langem Schritt. Da sprach ihn ein Bekannter an, verwickelte ihn in ein flüchtiges Gespräch. Was denn wohl in dem auffallend dicken Briefumschlag sei, wollte er wissen. »Ein Heiratsantrag«, antwortete Kafka. Und beide lachten.

    Die Biographen sind sich einig: »Es ist der sonderbarste aller Heiratsanträge«, schreibt Canetti, und noch deutlicher wird Pawel: »Es fällt schwer, sich einen abschreckenderen Heiratsantrag vorzustellen.« [304]   Das ist wahr. Und vergegenwärtigt man sich, dass Kafkas trostlose Bestandsaufnahme dem äußeren Zweck diente, eine Entscheidung herbeizuführen, die das Leben zweier Menschen auf Jahrzehnte hinaus bestimmen sollte, so darf man hinzufügen: eine Zumutung. Hat man denn überhaupt jemals einen ›Antrag‹ gesehen, der sich darin erschöpft, plausible Gründe für seine Ablehnung aufzuzählen?
    Wer heute Kafkas »Abhandlung« liest – wie er selbst seinen Brief nennt –, der wird sich kaum des unguten Gefühls erwehren können, Zeuge einer Verirrung zu sein. Woher kommt das? Vor allem daher, dass alles, was Kafka hier vorbringt, so offenkundig gut gemeint ist. Er will nichts falsch machen, will sichergehen, dass die Geliebte nicht eine folgenschwere Entscheidung aufgrund falscher Voraussetzungen trifft. Ihr wohlverstandenes Interesse beschäftigt ihn mehr als sein eigenes, und bedenkt man, was für ihn selbst auf dem Spiel steht, so muss

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